Stapler im Dreivierteltakt: Einblicke in ein unbekanntes Alltagsuniversum Kinonews | 21.05.2018 | Erika Weisser

Anfangs plätschert Johann Strauß’ Donauwalzer noch zaghaft durch die penibel aufgeräumten und vor Schichtbeginn noch unbelebten Gänge eines Großmarkts am Stadtrand von Leipzig. Doch im selben Maß, in dem die Kamera in die schier endlos langen und hohen Regalreihen eindringt, gewinnt auch die Musik an Fahrt. Als schließlich der erste Gabelstapler ins Bild kommt, spielt das Orchester mit vollem Einsatz. Bald tanzt ein Dutzend Stapler zum Dreivierteltakt; die Arbeit hat begonnen.

Das gilt auch für Christian, der nach einer kurzen, jugendsündenbedingten Zeit im Knast und einer sich daran anschließenden längeren Zeit der Arbeitslosigkeit endlich wieder einen Job hat und sein Leben in geregelte Bahnen bringen will. Sehr gesprächig ist der junge Lagerarbeiter nicht an seinem ersten Tag; er wirkt gar einigermaßen unsicher, als er in den neuen blauen Arbeitskittel schlüpft und dabei versucht, seine Unterarmtätowierungen zu verbergen. Den Schichtleiter scheinen sie indessen nicht zu interessieren; routiniert steckt er dem Neuling vier Kugelschreiber in die Brusttasche, klopft ihm auf die Schulter und gibt ihn unter die Fittiche von Herbert, dem ebenfalls ziemlich wortkargen Leiter der ­Getränkeabteilung.

Zwar behauptet Herbert, keine Aushilfe zu brauchen, doch er wirkt dabei nicht unfreundlich; er begegnet dem zunächst recht unbeholfenen Christian mit einem gewissen Wohlwollen, macht sich nicht über seine Ungeschicklichkeit lustig. Allmählich entsteht ein Vertrauensverhältnis zwischen den beiden Männern; bald verbringen sie die Pausen zusammen, rauchen miteinander, deuten manchmal auch Privates an, respektieren jedoch die Geheimnisse des anderen. Und als der schüchterne Kollege sich in die forsche flirtfreudige Marion aus der im benachbarten Korridor untergebrachten Süßwarenabteilung verliebt, ist es Herbert, der ein wenig Nachhilfe leistet bei der zaghaften Annäherung. Und er ist es auch, der, als Marion einmal nicht zur Arbeit erscheint, Christian darauf aufmerksam macht, dass sie verheiratet und ihr Mann nicht eben zimperlich ist.

Mit viel Liebe zum Detail erkundet Thomas Stuber die uns Konsumenten unbekannten Seiten des Mikrokosmos Großmarkt und porträtiert die dort arbeitenden Menschen mit großer Zuneigung. Die sehr behutsam dargestellte Fähigkeit dieser im wirklichen Leben so wenig beachteten Leute zu Empathie, Solidarität, respektvollem Umgang und auch zur Trauer macht diesen nur scheinbar schlichten Film zu einem kleinen Kunstwerk, an dessen überraschendem Ende viel mehr zu hören ist als das Rauschen von Donauwellen. 

In den Gängen
Deutschland 2017
Regie: Thomas Stuber
Mit: Franz Rogowski, Sandra Hüller, Peter Kurth u.a.
Verleih: Zorro Film
Laufzeit: 120 Minuten
Start: 24. Mai 2018

Fotos: © Zorro Film