„Extrem stigmatisiert“: Basler Psychiater Marc Graf über Pädophilie STADTGEPLAUDER | 20.04.2018 | Till Neumann

chilli: Herr Graf, ist das Wort „Pädophilenring“ im Fall Staufen stigmatisierend?

Graf: Fachlich ist das falsch, man sollte aber keine Wortklauberei betreiben. Für das Kind spielt es jedenfalls keine Rolle, ob es Pädophile waren oder nicht. Dennoch gilt: Pädophile werden extrem stigmatisiert. Die Vorbehalte sind tief verankert.

chilli: Wie viele Kindes-Missbrauchsfälle sind pädophil motiviert?

Graf: Wir schätzen etwa 40 bis 50 Prozent. Wir können davon ausgehen, dass ein Großteil der Pädophilen nicht übergriffig wird.

chilli: Wie wichtig ist eine Therapie?

Graf: Sehr wichtig. Kernpädophile (Menschen, die einzig Kinder anziehend finden) können ihre Intimität nicht leben. Sie fliehen in Fantasien, Pornos, Missbrauch oder Suizid. Einige schreiben Abschiedsbriefe, weil sie sagen: „Ich schaffe es nicht.“ Manche Patienten sagen mir: „Entweder Sie helfen mir, oder ich erschieße mich.“ Sie begehren das Kind des Nachbarn so sehr, dass sie dreimal am Tag zu den entsprechenden Fantasien masturbieren. Was können wir also tun, damit eine pädophile Person gar nicht erst übergriffig wird? Wir können nicht allen helfen, schaffen es aber, die Rückfallquote zu halbieren.

Hilft Betroffenen: Psychiater Marc Graf

chilli: In Freiburg gibt es kein Therapieangebot. Was raten Sie Betroffenen?

Graf: Den Wohnsitz ändern. Dahin, wo es ein Angebot gibt. Jeder Aufwand lohnt sich für die Freiheitsgrade, die man durch eine Therapie bekommt. Wer nichts macht, wird immer stärker leiden. Die Wahrscheinlichkeit eines Übergriffs steigt.

chilli: Was bietet Ihre Therapie?

Graf: Anonym wie beim deutschen Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden“ ist das bei uns noch nicht. Die Krankenkassen tragen jedoch die Kosten. Wir hatten hier in Basel auch schon einen Patienten aus Südbaden, sogar seine Fahrt mit dem Zug nach Basel wurde von der Kasse übernommen. Wir möchten unser Angebot ausbauen, stärker auch eine Anlaufstelle für Menschen aus Südbaden werden.

chilli: Max macht Babysitting, Daniel will Erzieher werden (siehe chilli-Artikel über Pädophile). Was sagen Sie dazu?

Graf: Das ist heikel, ein Spiel mit dem Feuer. Ein Alkoholiker sollte auch nicht in den Supermarkt gehen, wo an der Kasse Hochprozentiges steht.

chilli: Ist man für immer pädophil?

Graf: Die Frage ist höchst umstritten. Ich meine, zusammen mit einigen Forensikern: Einige absolvieren die Therapie so erfolgreich, dass nachher die Diagnose nicht mehr gestellt werden kann. Ich kenne Patienten, die Kinder missbraucht haben und nach einer erfolgreichen Behandlung jetzt in einer Beziehung mit einem Erwachsenen leben. Die Diagnose Pädophilie können wir dort nicht mehr stellen.

Fotos: © dpa; Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel

Zwei Pädophile erzählen von Kinderliebe, Stigmatisierung und fehlender Hilfe