Fühlen statt sehen: Freiburgs erste Medizinische Tastuntersucherin STADTGEPLAUDER | 28.05.2018 | Valérie Scholten

Brustkrebs ist tückisch. Er verursacht in frühen Stadien keine Beschwerden und tut nicht weh. Aktuell erkranken jedes Jahr rund 70.000 Frauen in Deutschland an Brustkrebs, für etwa 18.000 endet das tödlich. Häufig werden bösartige Veränderungen zu spät erkannt.

Dabei sind die Heilungschancen bei einer Früherkennung hoch. Vor allem bei jungen Frauen ist dies entscheidend, da Zellteilung und Stoffwechsel viel schneller sind. Seit vergangenem Herbst bietet die Frauenarztpraxis im Stühlinger neben den bildgebenden Untersuchungsmethoden wie Mammographie und Ultraschall eine spezielle Brusttastuntersuchung an.

Mit ihren Fingern nimmt sie die Brust Stück für Stück unter die Lupe. Nachdem Danielle-Joëlle Toussaint Achselhöhlen und die Lymphknoten am Hals abgetastet hat, teilt sie die Brust der Patientin in verschiedene Bereiche ein. Vorsichtig befestigt sie die roten Klebestreifen, die speziell für die Tastuntersuchung entwickelt wurden. Zentimeter für Zentimeter arbeiten sich ihre Fingerspitzen über die Haut. Mit Zeige- und Mittelfinger fährt sie über die Brust. Ihre Finger tanzen Walzer – zwei Schritte vor, dann mit ein wenig Druck in die Tiefe. Systematisch bearbeitet sie jeden Abschnitt. Toussaint ist hochgradig sehbehindert. Mit einer Sehkraft von 0,03 Prozent erkennt sie nur noch Umrisse und Farben. In ihrem Beruf ist ihre Behinderung ein Vorteil: „Bei blinden Frauen ist das Tasten ein Hauptsinn. Die Hände sind viel sensibler, weil sie trainiert sind“, erklärt die 58-Jährige.

Als ihre Sehkraft immer mehr nachließ, gab Toussaint ihre Tätigkeit als Religionslehrerin und Schulseelsorgerin in Deutschland und Frankreich auf und absolvierte die neunmonatige Ausbildung zur Medizinischen Tastuntersucherin (MTU) in Nürnberg. Die MTUs erlangen Grundkenntnisse diagnostischer und therapeutischer Methoden, Wissen zum Aufbau, zur Funktion und zu Erkrankungen der weiblichen Brust sowie medizinisches Basiswissen.

Rote Klebestreifen helfen der MTU ­Danielle-­Joëlle Toussaint beim Abtasten.

Die Idee, den besonderen Tastsinn von Blinden zu nutzen, um etwa Brustkrebs früh zu erkennen, entstand vor einigen Jahren. Der Duisburger Gynäkologe Frank Hoffmann startete „Discovering Hands“ als Projekt im Jahr 2006. Seitdem vermittelt die Organisation ausgebildete MTUs an Arztpraxen und Kliniken.

Auch Toussaint ist bei „Discovering Hands“ angestellt und arbeitet rund 20 Stunden die Woche in der Frauenarztpraxis im Stühlinger sowie in einer Praxis in Karlsruhe. Dort leiht sie den Ärzten ihren besonderen Tastsinn. „Weder die Mammographie noch der Ultraschall decken alles ab. Es gibt immer wieder Tastbefunde, die man in beiden Bildgebungen nicht darstellen kann“, erklärt Frauenärztin Anna Bodemer. Außerdem bleibe für die Brustuntersuchung häufig nur wenig Zeit.

Bei Toussaint dauert die Brusttastuntersuchung rund eine Stunde. Zu Beginn des Termins füllt sie zusammen mit der Patientin einen Anamnesebogen aus. Denn Größe, Gewicht, die letzte Periode, Sport, Vorerkrankungen in der Familie oder etwa die Einnahme von hormonellen Verhütungsmitteln spielen eine Rolle bei der Konstitution der Brust. Natürlich löse die Brusttastuntersuchung nicht die Krebsvorsorge beim Arzt ab. „Eine gute MTU kann jedoch einen Tumor in der Größe von sechs Millimetern ertasten“, so Toussaint.

Neben den gynäkologischen Krebsvorsorgeuntersuchungen rät Dr. Bodemer, sich alle vier Wochen selbst abzutasten. Vera Löffler vom Frauen- und Mädchengesundheitszentrum bietet dazu jährlich einen Kurs zur Brustselbsttastuntersuchung sowie Einzelberatungstermine an: „Wir wollen Frauen bestärken, mit ihrer Brust in natürlichen Kontakt zu treten.“

Info

Auch Patientinnen, die sonst zu einem anderen Gynäkologen gehen, können in der Frauenarztpraxis im Stühlinger einen Termin zur Tastuntersuchung vereinbaren. Die Untersuchung kostet rund 50 Euro. Einige Krankenkassen bezahlen diese Leistung.

Fotos: © iStock / SerhiiBobyk; vas