Zwischen zwei Welten – Wenn Paten benachteiligten Kindern Halt geben Kinderprojekte | 20.05.2025 | Rebecca Arens

Armut raubt Kindern oft unbeschwerte Momente – das SALAM‑Programm in Freiburg bringt Studierende und Kinder zusammen und schafft Erinnerungen, die bleiben.
Julius Andelfinger lässt sich Anfang März auf den Fahrersitz seines blauen Dacias fallen und krempelt die Ärmel seines Pullovers hoch. „So“ sagt er. Er bugsiert den kleinen Kombi aus einer engen, schlecht einsehbaren Einfahrt in der Freiburger Wiehre. Eigentlich müsste er lernen, aber den heutigen Tag hat er sich extra freigeschaufelt. Er will Iurie (Name geändert) abholen.
Lehramtsstudenten und Kinder mit Förderbedarf sollen eine Beziehung zueinander aufbauen
Im November 2024 haben sich Julius und Iurie kennengelernt. Im Zuge eines Programms der Pädagogischen Hochschule: „SALAM“. Die Idee dahinter: Lehramtsstudenten und Kinder mit Förderbedarf sollen eine Beziehung zueinander aufbauen. Jeder Student bekommt ein Patenkind, mit dem er sich von November bis Juni regelmäßig trifft. Manche Kinder haben Fluchterfahrungen oder kommen aus finanziell schwachen Familien. Für Julius kommt das Programm Anfang November gerade recht – spannendes Ehrenamt statt noch ein trockenes Uni-Seminar.

Julius und Iurie schieben sich im Dacia durch den Stadtverkehr
Wenn es darum geht, wer welches Kind bekommt, dürfen die Studenten mitbestimmen. Türkische Studenten nehmen gerne türkische Kinder – so fällt die Sprachbarriere zu den Familien weg. Julius ist das aber egal. Also wird ihm Iurie vorgestellt. „Aus Rumänien“, „Mutter spricht kein Deutsch“, „Vater ist weg“, „männliches Vorbild“: Nach den ersten Gesprächen mit den Projektbetreuern bleibt bei Julius nicht viel hängen.
Auf dem Weg zu seinem Patenkind fährt Julius an Müllhaufen und Schrott vorbei. Iurie lebt in einem Gewerbegebiet. Der alte Güterbahnhof liegt in der Nähe. Die umstehenden Bürogebäude wirken leer, tot. Nichts lässt darauf schließen, dass hier eine Familie lebt. Der Dacia wird langsamer. Julius schaut nach links. Eine schwarze kleine Hütte. Die Rollläden sind unten.
„Wir haben schon so einige Döner zusammen gekillt.“
„Mit einem Dreizehnjährigen erlebt man eben Dinge, die man als Erwachsener nicht mehr macht“, sagt Julius. Durch den Wald rennen, rumalbern, Grimassen schneiden, Fast Food essen. „Wir haben schon so einige Döner zusammen gekillt.“ Sonst sind die Themen mit Freunden und Familie andere: Politik, Probleme, Geld, Macht, Nachrichten, Leistung, Erfolg, Beruf. „Kinder sind da nicht so kompliziert.“
Der Student ist überpünktlich. Er parkt das Auto, dann wartet er. Er will die Familie nicht zu früh stören. „Am Anfang ist er immer etwas still“, während er das sagt, fummelt er am Radio herum.

Auf dem Gipfel
Iurie und seine Familie kommen aus der Republik Moldau. Ein Zwischenstaat in Osteuropa, der im Osten an die Ukraine und im Westen an Rumänien grenzt. Iurie nennt es Moldawien. Für ihn ist es das Land, in dem sein großer Bruder zurückblieb, als die Familie nach Deutschland ging. Mit seiner Mutter und seinen zwei kleinen Geschwistern lebt er in Freiburg. Seine Mutter ist arbeitslos. Sie spricht kein Deutsch, oft übersetzt der Junge für sie. Gemeinsam mit ihr kümmert sich Iurie um seine Geschwister. Der dreizehnjährige blonde Junge mit den großen Schneidezähnen ist der Mann im Haus.
Iurie steigt in den Dacia. Auf ein kurzes Schweigen folgt ein zaghaftes Gespräch: „Wie geht es dir, Iurie?“. Gut, sagt der Junge. Er hat bei einem Freund übernachtet. Videospiele und Chicken Nuggets. „Geiler Porsche!“, unterbricht er seine Erzählung. „Mega, ein Elektro-Porsche“, antwortet Julius. Über Autos reden? Geht immer. „Weißt du noch, wie ich dir mal erklären wollte, wie Strom funktioniert?“ Iurie lächelt etwas schief und schüttelt den Kopf. Julius greift das Lenkrad etwas fester.
Es ist Iuries erste Gondelfahrt
Sein Auto schiebt sich durch die Straßen Freiburgs, an den Radfahrern vorbei. Julius schaut immer wieder kurz zu Iurie rüber. Woran er wohl gerade denkt? Aber der Junge merkt es nicht. Er schaut auf die Straße. Sie erinnert ihn an eines seiner Videospiele: GTA. „GTA ist wie das echte Leben.“, sagt er irgendwann. Die Straßen, die Autos, „genau wie bei GTA!“. „Nein, ist es nicht! Das ist mal klar!“, sagt Julius und lacht. Bei GTA werden ständig Autos geklaut und Leute erschossen. Und ob Iuries Mutter überhaupt weiß, was er da zockt? Wieder lachen die beiden. Mütter haben keine Ahnung.
Freiburg liegt an diesem Nachmittag unter einer dicken Nebeldecke, aber die Seilbahn, die die beiden auf den Schauinsland bringen soll, ist gut besucht. Der Gipfel verspricht besseres Wetter. Ratternd verlässt die Seilbahn die Talstation und schwebt dem Gipfel des Schauinsland entgegen. Iurie, der eben noch im Auto über Videospiele und Autos geredet hat, ist plötzlich ganz still. Es ist die erste Gondelfahrt seines Lebens.

Auf dem Weg zum Gipfel lichten sich die Nebelschweden
Iurie schaut hinaus und presst die Hände gegen die Scheibe. „Wir sind über der ganzen Welt“, sagt er leise, „die Menschen sehen aus wie Ameisen, die Wolken wie Zuckerwatte.“
Auf dem Schauinsland-Gipfel ist viel los. Im März liegt sogar noch ein Rest Schnee. Iurie und Julius schauen noch eine Weile ins Tal auf die Gondeln, die nach und nach durch die Nebeldecke brechen. „Schau mal Iurie“, sagt Julius, „da drüben ist Frankreich. Und wenn du ganz genau hinschaust, siehst du sogar die Alpen.“ „Hier muss ich meine Mama hinbringen“, sagt Iurie. Über seinen Vater spricht er nicht.
„So ein witziger Typ, der Iurie!“
„Komm, Iurie“, sagt Julius und läuft mit ihm durch das Getümmel auf dem Spielplatz. Kinder mit Mützen rennen durcheinander. Es wird gelacht, gequietscht und geschrien. Eltern stehen lachend dazwischen.
Ein Schneeball fliegt gegen Julius‘ Jacke. Iurie freut sich. Er hat ihn geworfen. Julius wirft zurück. Sein Ball landet versehentlich direkt in Iuries Gesicht. „Ey!“, ruft Iurie. Er nimmt eine Handvoll Schnee vom Boden und isst etwas davon: „Oh ja“, sagt er mit gespielt geziertem Ton, „das ist das beste Essen, das es hier hoch oben in den Bergen gibt!“ Julius grinst: „So ein witziger Typ, der Iurie!“.

Einfach mal Kind sein
Die Jungs machen einen kleinen Spaziergang. Weg vo, Getümmel. Überall liegen Schneereste und Eis. Iurie erzählt von seinem großen Bruder in Moldawien, seinem Vorbild. Julius hört zu, stellt nur manchmal eine Frage oder hält Iurie fest, wenn er auf dem eisigen Boden fast ausrutscht. „…aber hier bin ich jetzt der Große“, beendet Iurie seinen Satz. Irgendwann bekommen die beiden Hunger. Auf dem Weg zur Bergstation reden sie darüber, was man aus Schnee alles Leckeres zubereiten kann: Schneepizza, Schneedöner, Schneeburger. Iurie bleibt dabei: Schneepizza schmeckt am besten. Bald will der Dreizehnjährige seiner Mutter eine Pizzeria zeigen, die er neulich entdeckt hat. Echte Pizza.
Statt Schneedöner gibt es eine Portion Pommes
Die Bergstation lockt mit Sonnenterrasse und gutem Essen. Ein verliebtes Pärchen lässt sich ein Käsefondue servieren. Julius und Iurie bestellen Pommes. „Iurie, beim nächsten Mal darfst du entscheiden, was wir unternehmen, okay?“, sagt Julius und taucht eine Pommes in die Mayonnaise. Iurie schüttelt den Kopf und greift ebenfalls zur Mayo. Er mag, was Julius mag.
Iurie fallen auf dem Heimweg im Auto die Augen zu. „Ich glaube, es hat ihm wirklich Spaß gemacht.“, sagt Julius leise. In der kleinen Hütte im Gewerbegebiet riecht es nach Abendessen. Iurie wird schon erwartet. Er gibt Julius zum Abschied höflich die Hand, geht zu seiner kleinen Schwester und nimmt sie auf den Arm. Er küsst sie auf die Wange, dreimal. Seine Mutter schenkt Julius zum Abschied eine Packung Merci-Schokolade. Julius will sich bedanken, doch sie unterbricht ihn: „Ich verstehe nichts von dem, was du sagst“, lacht sie. „Aber ich danke dir!“. Alle vier winken zum Abschied.

Iurie und seine Familie kommen aus der Republik Moldau.
Julius dreht sich noch einmal um, bevor er in den Dacia steigt. Iurie ist schon im Haus verschwunden. Wie schon am Morgen lässt sich der Student auf den Sitz des Dacias fallen. Erst jetzt merkt er, wie müde er ist. Seine Gedanken kreisen, wie immer nach den Treffen mit Iurie. Er will mit dem Jungen nichts falsch machen. Doch für heute beschließt Julius, seine Zweifel beiseitezuschieben. Und hat er es nicht selbst gesagt? „Kinder sind da nicht so kompliziert.“
Patenschaftsprogramm SALAM
Das Patenschaftsprogramm SALAM (Spielen – Austauschen – Lernen – Achtsam – Miteinander) wurde 2009 von der Psychologin und Lehrerin Hildegard Wenzler-Cremer in Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule und fünf Freiburger Grundschulen aufgebaut. Studenten übernehmen Patenschaften für Kinder, die neu in Deutschland sind oder im Schulalltag Hürden überwinden müssen. Einmal wöchentlich gestalten die Studenten mit den Kindern gemeinsam den Nachmittag, bauen stabile Beziehungen auf, spielen, sprechen Deutsch, erkunden die Umgebung und tauschen sich aus. Bislang sind rund 1000 Patenschaften entstanden.
Fotos: Rebecca Arens
Transparenzhinweis: Die Autorin ist mit dem Protagonisten zusammen.