Fast fataler Fund: In Ivan Calbéracs Sommerkomödie geraten einige Gewissheiten ins Wanken 4Film | 28.07.2024 | Erika Weisser
Der ausgediente General François ist ein Mann von Disziplin und Prinzipien. Zwar nimmt niemand in der Familie ihn und sein festgefügtes Weltbild so richtig ernst. Außer dem ältesten Sohn, der ebenfalls eine militärische Laufbahn eingeschlagen hat. Doch darüber geht der stockkonservative Rentner großzügig und selbstgerecht hinweg. Erst die Entdeckung einer uralten Affäre seiner Ehefrau wirft ihn aus der Bahn – und bringt manche Selbstgewissheit ins Wanken.
Die mit einem roten Band umwickelten Briefe, die François beim Aufräumen des Dachbodens findet, sind 40 Jahre alt. Dennoch dürfte er sie nicht lesen: Sie sind an seine Frau Annie adressiert, die seit fast 50 Jahren mit ihm verheiratet ist. Glücklich verheiratet, wie er meint: Schließlich fehlt es ihr an nichts, in strengem Familiensinn sowie unbedingter Treue, Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit hat er immer für sie gesorgt – und die drei erwachsenen Kinder sind auch auf einem guten Weg.
Na ja, zumindest Amaury, der Älteste, der in seine Fußstapfen getreten ist und schon Vater von vier Kindern ist, wenn auch nur von Töchtern. Vom Leben seiner eigenen Tochter Capucine weiß er nicht viel, ebenso wenig wie vom Alltag des Jüngsten, Adrien, der als Puppenspieler arbeitet. Dass er und Annie nur eine oberflächliche Beziehung zu den beiden haben, schiebt er auf den Umstand, dass sie zu weit weg vom Elternhaus in Lille wohnen – in Nizza. Und genau von dort wurden die Briefe verschickt, die er jetzt findet.
Sie stammen von Boris, einem gemeinsamen Jugendfreund von Annie und François. Doch der Inhalt ist eher leidenschaftlich denn freundschaftlich; die Wortwahl lässt darauf schließen, dass der Briefeschreiber bestens mit den intimen Details des Körpers seiner Ehefrau vertraut ist. Der Loyalitätsfanatiker versteht die Welt nicht mehr; sie gerät genauso aus den Fugen wie er selbst: Niemals verzeiht er Annie ihren Seitensprung, an den sie sich gar nicht mehr erinnert; rasend vor Eifersucht droht er mit Scheidung – und damit, den Nebenbuhler zu Rechenschaft und Vergeltung zu ziehen.
Annie lässt den altersstarrsinnigen und eigentlich schon immer völlig uncharmanten Ehemann indessen nicht alleine zu seiner geplanten Vendetta reisen – nach Nizza, wo Boris immer noch wohnt. Dabei ist unübersehbar, dass außer der Sorge um den Zusammenhalt der Familie auch eine gewisse erotische Neugier und Abenteuerlust mit im Spiel ist. Und es fehlt nicht viel, dass, als sie Boris finden, sie seinem unverminderten Charme erneut verfällt. Doch zunächst muss sie bei François andere Wogen glätten: Capucine outet sich unfreiwillig als lesbisch, und er hegt plötzlich Zweifel an der Vaterschaft zumindest von Adrien. Und während er sich seiner Raserei hingibt, zieht sie schließlich eine völlig unerwartete Konsequenz, die wiederum bei ihm scheinbar alles verändert. Mit ungewissem Ausgang.
Liebesbriefe aus Nizza
Frankreich 2024
Regie: Ivan Calbérac
Mit: André Dussolier, Sabine Azéma, Thierry Lhermitte, Joséphine de Meaux, Eva Rami u.a.
Verleih: Neue Visionen
Laufzeit: 95 Minuten
Start: 1. August 2024
Foto: © Neue Visionen