Absolut lesenswert! – Das sind die Bücher des Jahres der chilli-Redaktion 4Literatur & Kolumnen | 01.01.2025 | Erika Weisser; Marianne Ambs; David Pister; Philip Thomas; Lars Bargmann; Till Neumann

Was für ein Jahr! In den zerrissenen Staaten von Amerika wird Donald Trump erneut zum Präsidenten gewählt, am selben Tag platzt in Deutschland die Ampel-Regierung, in Südkorea verhängt der Präsident – für sechs Stunden – den Kriegszustand, in Frankreich stürzen Links- wie Rechtsextreme die Regierung … In der Weihnachtszeit müssen unbedingt andere Themen her. Die bieten unsere Bücher des Jahres.
Briefe aus Immerwald
Was der Einband verspricht, wird vom Inhalt eingehalten: Der Eindruck einer winternächtlich blauen, von verstreuten Lichtquellen belebten Landschaft setzt sich im Buchinnern fort – in Franziska Neuberts wunderschönen Grafiken, die förmlich in das Werk einer jungen Autorin hineinziehen, die einen ganz eigenen, höchst einfallsreichen, fast schwerelosen und dabei zutiefst existenziellen Ausdruck gefunden hat: Marie T. Martin.
Der Band versammelt die vier Bücher, die die Freiburger Lyrikerin und Meisterin der „Kleinen Prosa“ in den zehn Jahren vor ihrem frühen Tod im November 2021 veröffentlicht hat. Dazu kommen 80 Seiten Nachlass: Berührende Korrespondenzen aus einem „Ort jenseits der Zeit“, bezaubernde Miniaturen um schräge Figuren wie den Zündholzschachtelgeist, Briefe aus der Phantasie eines „Immerwalds“.
Ein schönes Buch, das Marie T. Martins Spuren bewahrt und ihre literarische Kreativität lebendig werden lässt. Immer wieder.
Der Winter dauerte 24 Jahre
Werke und Nachlass
von Marie T. Martin
Verlag: Poetenladen, 2024
432 Seiten, gebunden
Preis: 32,80 Euro
Welt im Umbruch
Es gibt Bücher, die möchte man, auf der letzten Seite angelangt, gleich noch einmal lesen. Bei Iris Wolffs Roman „Lichtungen“, der es dieses Jahr auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, ging es mir schon nach den ersten Seiten so.
Iris Wolff erzählt von der Freundschaft zwischen Lev und Kato mit großer Leichtigkeit, doch in ihren Sätzen scheint mehr verwoben, als zunächst zutage tritt. Der besonderen Verbindung der beiden können seit der Kindheit in Rumänien Jahrzehnte und unterschiedliche Lebensentwürfe nichts anhaben. Gleichzeitig entfaltet die Freiburger Autorin, selbst geboren
Lichtungen
von Iris Wolff
Verlag: Klett-Cotta, 2023
256 Seiten, Hardcover
Preis: 24 Euro
Selbstzweifel und Exzess
Aus Ostsee wird Elbe. Aus Punk wird ironischer Schlager. Aus Roddy Dangerblood wird Rocko Schamoni. Basierend auf Tagebüchern und Kalendern rekonstruiert der Musiker und Schriftsteller seine Selbstfindung, den dunklen Stern seines Lebens. „Pudels Kern“ ist die Fortsetzung der mit „Dorfpunks“ begonnenen Autobiografie Schamonis. Die Töpferausbildung ist mit befriedigendem Ergebnis bestanden. Die Welt liegt dem 19-jährigen Schamoni Ende der Achtziger zu Füßen.
Sankt Pauli ruft: rein ins Leben und die Kunst. Schamoni lässt nichts aus. Er geht auf Tour mit den Goldenen Zitronen, befreundet sich zwischen Bier und Dreck mit Neubauten-Frontmann Blixa Bargeld, wird fast zum Teenie-Star. Selbstzweifel und Exzess. Traurig und jauchzend. Aber immer hemmungslos und wild.
Pudels Kern
von Rocko Schamoni
Verlag: Hanserblau, 2024
304 Seiten, Hardcover
Preis: 26 Euro
Bloß kein Geblödel
Eigentlich schreibt Sven Regener traurige Geschichten: Seine Protagonisten verlieren regelmäßig Freunde, Liebe und Heim, ringen verlottert um Freiheit, Sinn und Selbstbestimmung. Trotzdem gelten „Herr Lehmann“, „Neue Vahr Süd“ und „Magical Mystery“ als lustig. In der Buch gewordenen Universitätsvorlesung „Zwischen Depression und Witzelsucht: Humor in der Literatur“ versucht der Romanautor herauszufinden, warum das so ist.
Regener gibt Einblick in seinen Schreibprozess. Er seziert seine Charaktere und den Humor als „zweischneidiges Schwert“ von der Satz- bis zur Sinnebene.
Schnell verlässt Regener jedoch die Schreibmaschine und wirft einen kühnen Blick in Ausstellungen, Kinos, Proberäume und Theatersäle. Die Erkenntnis: In der Kunst kann auch das Scheitern toll sein – das identifizierende Publikum gönnt sich so einen distanzierten Blick auf sich selbst, Voyeure gehen leer aus. Unterhaltsam, aber nicht komisch.
Zwischen Depression und Witzelsucht: Humor in der Literatur
von Sven Regener
Verlag: Galiani-Berlin, 2024
96 Seiten, Taschenbuch
Preis: 14 Euro
Wie Demokratie Wohlstand bringt
Schon 2012 hatten Daron Acemoğlu und James A. Robinson das Buch „Why Nations fail“ veröffentlicht. Zusammen mit Simon Johnson haben sie im Oktober den Wirtschaftsnobelpreis bekommen. Im Buch wird, auch für Wirtschaftslaien verständlich, mit aufwendigen Studien bis zurück in die Kolonialzeit belegt, dass starke Institutionen dem Volk(!) eines Landes auf Dauer mehr Wohlstand bringen. Und dass in Autokratien die Eliten die Regeln so manipulieren, dass das Volk vom Wohlstand abgeschnitten wird.
Warum waren manche Nationen früher arm und sind heute reich und andere reiche heute arm? Am Beispiel Südkorea etwa lässt sich das beispielhaft plausibel erklären. Während der Zeit der Militärregierung (1960–1987) war das Volk arm wie eine Kirchenmaus, mit der Etablierung der Demokratie wuchs der Wohlstand. Wenn Menschen etwas unternehmen, brauchen sie verlässliche Eigentumsrechte und Spielregeln, die für alle gelten. Die Forschungsergebnisse des Trios könnten für autoritäre Staaten lehrreich sein. Könnten. Für Wohlstand und Fortschritt ist die Demokratie die entscheidende Größe. Insofern sind antidemokratische Parteien und Bewegungen nicht nur wohlstands-, sondern auch fortschrittsfeindlich. Absolut lesenswert.
Warum Nationen scheitern
von Daron Acemoğlu/James A. Robinson
Verlag: Fischer, 8. Auflage 2024
608 Seiten, Taschenbuch
Preis: 22 Euro
Taylor Swift verstehen
Diese Frau bricht alle Rekorde. 2023 wurden ihre Songs 26 Milliarden Mal gestreamt. Noch Fragen? Ja. Denn die Musik des Überstars weckt bei mir nicht den Hauch einer Emotion. Skip, skip, skip. Ich verstehe den Hype nicht. Als Musiknerd möchte ich es trotzdem kapieren.
Dabei hat der Bamberger Literatur-Professor Jörn Glasenapp amtlich geholfen. Sein Buch „Taylor Swift. 100 Seiten“ schafft es, die Taylor-Geschichte erfrischend zu erzählen. Er gibt spannende Einblicke in ihre Welt: Songs, Tiefschläge, Werdegang, Anekdoten.
Glasenapp macht keinen Hehl daraus, selbst ein Swiftie zu sein. Beim Lesen merkt man schnell: Da hat sich jemand intensiv mit Musik und Person beschäftigt. Er schafft es, das humorvoll, kompakt und dennoch detailreich auf Papier zu bringen.
Toller Einblick in Swifts Megakosmos. Die Musik fühle ich weiterhin nicht. Aber ich habe einiges über die Lady mit der Lieblingszahl 13 gelernt.
Taylor Swift. 100 Seiten
von Jörn Glasenapp
Verlag: Reclam, 2024
100 Seiten, Taschenbuch
Preis: 12 Euro