Buch-Rezi: Maman – Deckname im Totenschein 4Literatur & Kolumnen | 29.04.2023 | Erika Weisser

Maman Cover

„Maman war eine Unglückliche, die ihr Unglück nicht reflektieren konnte“, beschreibt Sylvie Schenk ihre Mutter Renée. Mit knapp 80 Jahren sucht sie nach Spuren ihres Lebens – und fragt sich immer noch, ob sie lieber eine andere Mutter gehabt hätte. Eine, die heiter und kommunikativ war, die „wusste, wo es langging“.

Das wusste Renée nicht. Sie wusste nicht einmal, wo sie herkam. Vielleicht kannte sie auch ihren Geburtsnamen nicht, den die Tochter in den Archiven von Lyon recherchierte. In jenen Registern mit den Neugeborenen, die als elternlos galten: Bei Renées Geburt Ende 1916 verstarb ihre 45-jährige Mutter Cécile, der Vater war unbekannt.

Beinahe poetisch rekonstruiert Schenk das freudlose Dasein von Renée, die in einer Bauernfamilie ausgebeutet, misshandelt und missbraucht wurde – und emotional so verstummte, dass ihre späteren liebevollen Adoptiveltern sie nicht mehr zum Sprechen bringen konnten. Mit viel Empathie bringt sie auch Licht in die dunklen Lebenswege von Cécile und deren gleichfalls alleinstehender Mutter, die als schlecht bezahlte Seidenarbeiterinnen einem Nebenerwerb nachgehen mussten. In ihren Totenscheinen ist „menagère“ als Beruf angegeben: „der Deckname von Berufslosen, Dienstmädchen, Straßenmädchen“.

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Maman
von Sylvie Schenk
Verlag: Hanser, 2023
174 Seiten, gebunden
Preis: 22 Euro