Wie Strickerinnen, Streiter, Geigenbauer und Grenzgänger Freiburg gestalten 4Literatur & Kolumnen | 20.11.2020 | Erika Weisser

Baustelle

Was ist Alltag? Was macht ihn aus, wie verbringen Menschen ihren Alltag in einer Stadt – und wie erschaffen sie in und mit ihrem Alltag diese Stadt? Diese Fragen sind Thema einer Studie, die Masterstudierende des Instituts für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Freiburg nun vorgelegt haben. Im Fokus ihrer analytischen Forschungen darüber, wie sich urbane Eigenheiten und Alltag gegenseitig bedingen, stand die Stadt, in der sie selbst leben, studieren und forschen: Freiburg.

Acht Kulturanthropologie-Studierende waren an der Feldforschung vor der eigenen Haustür beteiligt. Herausgekommen sind 16 ethnografische Einzelstudien über ganz unterschiedliche Lebenswelten, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Im Kapitel „vermitteln“ geht es etwa um den Nachbarschaftsstreit beim Späti: Hier wird untersucht, welche latent vorhandenen Ressentiments aktiviert werden, wenn schwer miteinander zu vereinbarende Bedürfnisse aufeinanderprallen. Und welche Kräfte (Ordnungsamt, Müllabfuhr, Streetworker) bei der Schlichtung eines Konflikts wirken, der sich nach Ansicht des Autors „keinesfalls nur um Lärmbelästigung dreht“, sondern auch um Routinen des Zusammenlebens.

In einem weiteren Kapitel werden solche Routinen sofort erkennbar:  Es nimmt die Leute unter die Lupe, die jeden Werktag eine Grenze überqueren, um zu arbeiten – meist zur immer gleichen Urzeit, im immer gleichen Zug, mit der immer gleichen Pendlergruppe. Auch sie gestalten den Alltag Freiburgs mit, lassen Schlüsse zu über die Lebensqualität in der Stadt: Sie wäre eine andere, wenn Pharma- und Chemiekonzerne hier angesiedelt wären, die viel mehr Einpendler bringen würden. Die aber nur ungern in einer Industriemetropole wohnen und nach der Arbeit wieder in ihre etwa von Kleingewerbe, Dienstleistung und Landwirtschaft geprägte Heimat zurückkehren würden.

Möglicherweise hängt das Kapitel „wachsen“ mit diesem Phänomen zusammen. Es fokussiert den „erheblichen, für viele im Alltag spürbaren Mangel an Wohnraum“ und untersucht, warum trotz allenthalben sichtbaren Bauens nicht genügend bezahlbarerer Wohnraum entsteht und wie die hohen Preise für Bauland, Gebäude und Wohnraum das urbane Leben Freiburgs verändern. „Die Befriedigung des Wohnungsbedürfnisses geht weit über rein privatwirtschaftliche Bedeutung hinaus, sie ist vielmehr eine Frage des gesamten gesellschaftlichen Zusammenlebens“, so das Fazit.

Ein Kapitel beschäftigt sich mit Frauen, die sich regelmäßig in einem Wollladen zum Stricken treffen, ein anderes geht der Frage nach, warum es ausgerechnet in Freiburg so viele Geigenbauer gibt. Neben den Radfahrern, Bächleputzern und all den anderen für Freiburg fast schon symbolischen Gruppen, gestalten auch diese eher unsichtbaren Akteurinnen das „individuelle Gebilde Stadt“ mit, das in einem wechselvollen Zusammenhang „zwischen den spezifischen Strukturen und den Handlungen der Menschen, die dort leben“ entsteht, wie Projektleiterin Sarah May in der Einleitung zu diesem höchst informativen Sonderband der Reihe „Freiburger Studien zur Kulturanthropologie“ schreibt.

Cover

Alltag findet Stadt
von Sarah May (Hg.)
Verlag: Waxmann, 2020
176 Seiten,gebunden
Preis: 24,90 Euro

Foto: © Finn-Louis Hagen