Das Ringen ums richtige Energiekonzept: Dietenbach soll Deutschlands erster klimaneutraler Stadtteil werden Bauen | 01.09.2021 | Lars Bargmann

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Die Freiburger Stadtspitze hält an ihrem Ziel fest, den geplanten Stadtteil Dietenbach klimaneutral zu bauen. Einen Widerspruch zum bezahlbaren Wohnen sieht sie nicht. Auf einer bei einer Pressekonferenz an die Wand geworfenen Folie des Planungsbüros EGS-Plan aus Stuttgart stand die Zahl 1,862 Milliarden Euro. Das kostet die Infrastruktur für die Klimaneutralität.

Hinter den Kulissen gibt es zwischen der Sparkassen-Tochter Entwicklungsmaßnahme Dietenbach (EMD) und dem Rathaus weiterhin stark unterschiedliche Auffassungen über die Wirtschaftlichkeit. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat derweil die von drei Landwirten angestrengte Normenkontrollklage gegen Dietenbach verworfen.

Einen – im Betrieb – komplett klimaneutralen Stadtteil gibt es in Deutschland bisher nicht. Das Energiekonzept werde „Aufsehen erregen“, heißt es in einer Presseeinladung. Für das Büro EGS-Plan hatte Tobias Nusser vier Varianten vorgestellt, eine darunter hört auf den schönen Namen ­KliEn (klimaneutral und energiewendedienlich), sie liefere „das beste Gesamtergebnis“. Mit KliEn sei ein klimaneutraler Stadtteil möglich, es böte darüber hinaus Chancen und Perspektiven für ganz Freiburg. KliEn sei etwas „ganz Besonderes, eine echte Herausforderung“, kommentierte Klaus von Zahn, Chef des städtischen Umweltschutzamtes.

180.000 Quadratmeter Solarmodule

Das Konzept setzt bei der Wärmeversorgung auf eine 2500 Quadratmeter große Heizzentrale auf dem Parkplatz am Mundenhof, das die Wärme aus dem unter der Munzinger Straße liegenden Abwasserkanal sowie Grundwasser aus 28 Förderbrunnen nutzt. Solaranlagen auf maximal 180.000 Quadratmetern Dachfläche, auf bis zu 30.000 Quadratmetern Fassadenflächen und auch an der Lärmschutzwand zum Autobahnzubringer sowie ein grünes (durch ­regenerative Quellen gespeistes) Wasserstoffkraftwerk sollen Strom und Wasserstoff liefern (siehe Grafik nächste Seite).

„Da rechtliche Unsicherheiten bestehen, ob Fassaden-PV vorgeschrieben werden kann, soll eine PV-Fassade bei der konzeptionellen Vermarktung von Grundstücken positiv berücksichtigt werden“, heißt es in der Drucksache G-21/093 für den Gemeinderat. Ebenso, dass die Grundwasserentnahme einer Umweltverträglichkeitsprüfung bedarf und auch die Konsequenzen derselben auf die Ausweisung des Wasserschutzgebiets für die Tiefbrunnen Schorren und Spitzenwäldle in Umkirch. Die konsequente Solarnutzung der Dächer steht im Widerspruch zur Begrünung oder auch zum Urban Gardening.

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Lebenswerter Stadtteil: Ob er für Tausende Freiburger am Ende auch bezahlbar wird, ist derzeit noch offen.

„Dietenbach ist eine einmalige Chance, heute Zukunft zu entwerfen“, so Umweltbürgermeisterin Christine Buchheit. Der Stadtteil soll ein „Modellort für die klimaneutrale und lebenswerte Stadt“ werden. Baubürgermeister Martin Haag sieht einen Stadtteil, der „bezahlbar, von hoher Qualität und klimaneutral“ ist.

In diesen Grundton stimmen indes nicht alle mit ein. Deutliche Vorbehalte gab es bei der Vorstellung im Gemeinderat, Kritik gab es vom Klimabündnis Freiburg, das eine „Totalrevision des Konzepts“ fordert, von der Fesa, Baugenossenschaften, vom Klimahäuser bauenden Architekten Rolf Disch und der Solares Bauen GmbH. Der vorgeschriebene Effizienzhausstandard 55 für Wohn- und der Standard 70 für Gewerbegebäude würde beim Bezug schon der ersten Häuser im Jahr 2025 einen um „300 Prozent höheren Heizenergiebedarf“ aufweisen als die im Jahr 2000 gebauten im Vauban.

Die favorisierte zentrale Wärmeversorgung würde gegenüber einer dezentralen den doppelten Stromhunger haben, zudem werde die Chance vertan, das Grundwasser zur Kühlung der Gebäude zu nutzen, listen Disch und Solares-Bauen-Chef Martin Ufheil auf. Wie Stadtrat Wolf-Dieter Winkler forderten sie eine Absetzung des Themas im Gemeinderat. Der aber stimmte – wenn auch verhalten – zu, forderte aber die Verwaltung auf, einige offen gebliebene Punkte noch zu klären.

Etwa, welche Wärmekosten auf die Bewohner zukämen. In der Drucksache stehen 48 Euro pro Quadratmeter und Jahr, in der EGS-Studie bis zu 60. Mal abgesehen davon, dass das stur technisch errechnete Werte sind und im wahren Leben die Nutzer zwischen mollig und frisch entscheiden, braucht es auch noch einen Konzessionär, der die Milliarden-Investition stemmt – und diese dann mit Wärmelieferverträgen amortisiert. Das Konzept wird europaweit ausgeschrieben, die Badenova, so Sprecher Roland Weis, werde sich beteiligen.

Offen ist weiterhin auch, wie das Kernziel des Stadtteils, bezahlbares Wohnen, angesichts des besonders schillernden Straußes an Anforderungen erreicht werden soll. In diesem Kapitel spielt das Energiekonzept nur eine Nebenrolle. Die Hauptrolle werden die Grundstückspreise spielen, eine tragende Figur auch, ob das Rathaus seine Flächen nur auf Erbpacht vergibt. Haag sieht im Gemeinderat eine große Mehrheit dafür, dass das noch nicht final beschlossen ist. Auch wenn im Grunde der Beschluss, keine Flächen mehr zu verkaufen, steht.

Dem Rathaus gehören aktuell 41 Prozent des Baulands, die EMD hat 57 Prozent optioniert, 2 Prozent sind im Besitz von Kirche und Privaten. EMD-Geschäftsführer Ingmar Roth geht es aber um das Nettobauland: „Netto haben wir aktuell nur 43 Prozent und wir brauchen 50.“ Vor allem, dass das Rathaus von den 17 Hektaren, die das Land der Stadt für 16,50 Euro verkaufen wird, keinen einzigen bekommen hat, sei einer Wirtschaftlichkeit für die EMD abträglich. Wenn die EMD nicht die Hälfte des Nettobaulands bekäme, müsse das kompensiert werden, fordert Roth. Durch einen geringeren Erschließungsbeitrag. Das Rathaus will für die Grundstücke, die die EMD vermarktet, aktuell rund 400 Millionen Euro. „Wir werden der EMD einen höheren Ausgleich für den höheren Einstandspreis gewähren“, drückt sich Haag aus.

Die EMD rechnet für den Kauf der Grundstücke, die Nebenkosten, die Regiekosten und die jedes Jahr anfallenden 800.000 Euro schwere Optionsgebühr für die 80 Hektar mit einer halben Milliarde Euro an eigenen Kosten. Dafür könne sie derzeit 340.000 Quadratmeter für Wohnungsbau vermarkten. Wenn sie eine schwarze Null bei dem Deal machen soll – die conditio sine qua non für die Bank –, kostet der Quadratmeter Bauland jetzt schon 1470 Euro. Da auf diesem im Schnitt 1,6 Quadratmeter Wohnraum gebaut werden darf, liegt der Grundstücksanteil pro beheiztem Quadratmeter bei 920 Euro. Stand heute. Insgesamt können im Dietenbach 820.000 Quadratmeter Wohnfläche gebaut werden (siehe Infobox).

Der per Elektrolyse gewonnene grüne Wasserstoff würde auch für andere Abnehmer wie den ÖPNV oder die Industrie zur Verfügung stehen.

Der Gutacher, das Rathaus und die EMD

Stadt und EMD haben mittlerweile eigens einen Gutachter eingeschaltet, der für jedes erschlossene Grundstück mit allen auf diesem lastenden Anforderungen (etwa den Bau von Kitas, öffentlich gefördertem Wohnungsbau, Architektenwettbewerben, besonderen Klimaschutzauflagen etc.) einen „Endwert“ berechnet. Der soll Ende September vorliegen. Dann werden sich die Parteien die Boxhandschuhe anziehen. „Heute haben wir noch keine wirtschaftliche Tragfähigkeit“, sagt Roth. Die Sparkasse rechne parallel auch ein Ausstiegsszenario mit rund neun Millionen Euro durch, die dann rausgeworfen wären, wenn die EMD die Vereinbarung mit dem Rathaus nicht unterzeichnet. Frei nach dem Motto „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende“. Haag hält den Ball flacher: Die Abwendungsvereinbarung sei „auf einem guten Weg, nicht einfach, aber lösbar“.

Zu den auch von den eingeschalteten Dialogbürgern gern gesehenen Akteuren zählen Baugenossenschaften oder auch das Siedlungswerk. Dessen Freiburger Leiter Heinz-Dieter Störck sagt auf Anfrage: „Wenn wir geförderten Wohnungsbau auf Erbbaugrundstücken bauen sollen, dann geht das nur, wenn der Erbbauzins bei nahe null Prozent liegt.“ Und er müsste parallel auch Eigentumswohnungen bauen: „Das ist eine Voraussetzung für die Finanzierung.“ Der Bauvereinsvorsitzende Marc Ullrich würde sich freuen, „wenn die Bedingungen am Ende so wären, dass wir wie im Rieselfeld oder im Vauban tatsächlich bezahlbare Wohnungen für unsere Mitglieder bauen können“. Erbbaugrundstücke machten das Wohnen aber nur teurer.
Auf einer Pressekonferenz präsentierten Baudezernat und ausgewählte Dialogbürger unlängst die Ergebnisse ihrer Beratungen. „Unsere Vorgaben sind schon heftig, aber wir müssen dafür auch keine Machbarkeitsstudie machen“, fasste Clemens Hauser bündig zusammen. Ingo Breuker von der städtischen Projektgruppe Dietenbach nickte und sagte: „Das eine ist, was man will, und das andere, was man machen kann.“ Das ist auch die Formel für die nächsten Verhandlungen beim größten Neubauvorhaben in Baden-Württemberg.

INFO:

Flächen, Kosten 1. Bauabschnitt
Das Dietenbach-Areal ist 110 Hektar groß. Knapp 60 Hektar sind Nettobauland. Davon hält die Stadt Freiburg aktuell 41 Prozent, die Entwicklungsmaßnahme Dietenbach 57 Prozent. Die restlichen 2 Prozent gehören der Kirche oder Privaten. Insgesamt können 938.000 Quadratmeter oder 134 Fußballfelder vermarktbare Quadratmeter gebaut werden. 820.000 darunter sind für Wohnnutzungen geplant.
In zwei Jahren sollen die Erschließungsarbeiten für den ersten Bauabschnitt starten, der im Zentrum des neuen Stadtteils gebaut wird und 43 Hektar umfasst. Darauf sollen die ersten 1600 Wohnungen, ein Handwerkerhof, ein Wohnheim des Universitätsklinikums, ein Supermarkt, ein Pflegeheim, das Haus der Kirche, die Stadtbahntrasse in Richtung Rieselfeld, die Radwegeverbindung über den Autobahnzubringer an das Radvorrangnetz FR 1 sowie die Hochgarage am Parkplatz des Mundenhofs gebaut werden. Die Grundschule, eine Sporthalle und ein Rasenspielfeld mit 400-Meter-Bahn sind ebenfalls Teil des ersten Bauabschnitts.
Die städtischen Gesamtkosten – ohne die für dieKlimaneutralität – belaufen sich nach derzeitigen Angaben auf 850 Millionen Euro. Die Projektgruppe Dietenbach rechnet mit 750 Millionen Euro Erlösen aus Grundstücksverkäufen. 20 Jahre lang je 5 Millionen Euro kommen zudem aus der Stadtschatulle. Mindestens. 

Die Gegner wettern weiter
Zu den nicht müde werdenden Gegnern des Stadtteils zählen der Verein ECOtrinova, Stadtrat Wolf-Dieter Winkler von der Liste Freiburg Lebenswert und neuerdings auch der Wasserwirtschaftsingenieur Rolf Baiker. Der schreibt in einem offenen Brief an die Bürgermeisterriege und den Gemeinderat, dass angesichts der jüngsten Starkregenereignisse die Bebauung des Überschwemmungsgebiets „völlig unsinnig und nicht nachvollziehbar“ sei. Auch Winkler machte sich die Bilder aus NRW und Rheinland-Pfalz zunutze und fordert in einer Pressemitteilung, Dietenbach „zugunsten der Sicherheit der Bevölkerung und ihrer Enkelgenerationen zu begraben“. Der ECOtrinova-Vorsitzende Georg Löser hat zuletzt den Gemeinderat aufgefordert, die von der Stadt angestrebten Aufweichungen von Verordnungen zum Trink- bzw. Grundwasserschutzgebiet für Umkirch unter Dietenbach abzulehnen und sich gegen die drohenden Risiken bzw. Gefährdungen von (Trink-)Grundwasser einzusetzen. Das Rathaus begebe sich beim Gewässerumbau des Dietenbachs in „gefährliches Fahrwasser“. Auch die schleichende und fahrlässige Verschlechterung von Grundwasser sei per Strafgesetzbuch verboten.

Visualisierung: Visualisierung: © K9 Architekten / Latz+Partner / StetePlanung / endura kommunal – Stahl+Weiß