„Aufmerksamkeit ist das Nadelöhr“: Wählen und gewählt werden ab 16 – wie sinnvoll ist das? News & Trends | 03.06.2024 | Anna Pes

Ein Bild von Michael Wehner Findet, junge Menschen sollten gehört werden: Michael Wehner

In Deutschland dürfen bei der Europawahl am 9. Juni erstmals Menschen ab 16 Jahren abstimmen. Bei der Kommunalwahl am gleichen Tag können sich 16-Jährige auch wählen lassen. f79-Autorin Anna Pes hat bei Michael Wehner von der Landeszentrale für politische Bildung Freiburg nachgefragt, was das verändert.

f79: Wie steht es Ihrer Meinung nach gerade um die Jugendbeteiligung auf kommunaler Ebene? Geht es eher bergauf oder bergab?

Wehner // Ich glaube, sie stagniert, und sie ist natürlich sehr stark abhängig von politischen Großwetterlagen. Also wenn Themen, die jungen Menschen unter den Nägeln brennen, auch in politischen Großwetterlagen eine Rolle spielen, dann gehen die eher wählen. Die kommunale Wahlbeteiligung liegt insgesamt bei 50 plus x Prozent. 2019 haben in Freiburg nur 27,9 Prozent der 16- und 17-Jährigen ihre Stimme abgegeben. Bei den 18- bis 25-Jährigen waren es noch weniger. Das durchschnittliche Parteimitglied ist zusätzlich um die 60. Auch die Parteien schaffen es also grundsätzlich nicht wirklich, junge Menschen zu erreichen. Das sind Dynamiken, die den Teufelskreislauf eher nach unten befördern als nach oben. Insofern muss da schon noch was passieren.

f79: Ist es denn überhaupt wichtig, dass junge Menschen vertreten sind?

Wehner // Ja, nicht nur junge Menschen, sondern auch unterschiedliche soziale Schichtungen und Gruppierungen sollten in den Parlamenten einigermaßen abgebildet sein. Man kann nicht davon ausgehen, dass Parlamente genauso aufgebaut sind wie die Gesellschaft in einem Land oder einer Kommune. Aber wenn junge Menschen in Gemeinderäten nicht vertreten sind, werden ihre Stimmen natürlich auch weniger gehört als die von Personen, die in Gemeinderäten vertreten sind. Außerdem gibt es Paragraf 41 a der Gemeindeordnung, der zwingend Jugendbeteiligung vorsieht. Es ist deswegen auch im Interesse der Kommunalpolitik, dass auf Stimmen von jungen Menschen gehört und geachtet wird.

f79: Was ist Ihrer Meinung nach das Geheimnis, um junge Leute für Politik zu begeistern?

Wehner // Meine These ist immer: Die Aufmerksamkeit ist das Nadelöhr, durch das alles durchmuss. Wenn es mir nicht gelingt, das Interesse zu wecken, dann brauch ich gar nicht mit Wissensbildungsprozessen anzufangen. Es ist also die erste Aufgabe, Interesse zu wecken, deutlich zu machen, warum Politik meine Lebens- und Alltagswelt bestimmt. Die große Hoffnung beim Wahlrecht ab 16 ist, dass man junge Menschen noch in den Schulen erreicht. Und wenn es einen guten Gemeinschaftskundeunterricht gibt, dann wird da eben hoffentlich auch erklärt, warum es wichtig ist, wählen zu gehen und welche Funktionen, Bedeutungen und Auswirkungen kommunal­politische Entscheidungen haben.

f79: Bei den Kommunalwahlen in Baden-Württemberg dürfen Menschen ab 16 wählen. Haben Sie das Gefühl, das verändert den Wahlkampf der Parteien und Listen?

Wehner // Parteien versuchen immer, ein Catch-all-Angebot zu machen und versuchen, alle Interessenspositionen im Wahlprogramm abzubilden. Gleichzeitig will ich als Partei gewählt werden und ich werde eben eher von Menschen gewählt, die sich in meinen Wahlprogrammen wiederfinden. Dadurch, dass die Wahlbeteiligung bei jungen Menschen niedriger ist, heißt das in der Praxis: Eher Senioren- als Jugendprogramme zu machen, liegt in einer gewissen Stimmenmaximierungslogik. Was man schon bemerkt, ist, dass die Listen in ihren Aufstellungen auf die Verjüngung der Wählerschaft reagieren. Inwiefern sich das dann in Mandaten widerspiegeln wird, ist das große Fragezeichen.

f79: Menschen ab 16 können nicht nur wählen, sondern auch gewählt werden. Wie kann ich mir das denn vorstellen, wenn Minderjährige im Gemeinderat sitzen?

Wehner // Na ja, sie sind dann vollberechtigtes Mitglied im Gemeinderat und versuchen dann, ihrer Stimme im Gesamtkonzert des Gemeinderats Gehör zu verschaffen und im Idealfall auch Mehrheiten zu schaffen.  Die Jugendlichen sind aber nur bedingt geschäftsfähig. Vor allem, wenn es um juristische Fragen geht, könnte das Alter zum Problem werden, zum Beispiel bei der VAG oder einer städtischen Wohnbaugesellschaft. Da wird man ihnen wahrscheinlich nicht die vollen demokratischen Rechte einräumen können. Ich bin aber kein Jurist. Es wird sicher noch Auseinandersetzungen darüber geben, was die bedingte Rechts- und Geschäftsfähigkeit der Mandatsträger genau bedeutet.

f79: Halten Sie es für sinnvoll, dass Minderjährige in den Gemeinderat gewählt werden können?

Wehner // Ich würde das anders formulieren. Es geht ja nicht um Minderjährige. Das sind Menschen mit vollen politischen Rechten, und sie haben damit auch volle politische Stimmrechtsgewalt im Gemeinderat. Wie bei allen politischen Themen gibt es Argumente Dafür und Dagegen. In Baden-Württemberg hat es der Gesetzgeber jetzt so entschieden. Die Jugendlichen werden auch viel früher erwachsen und sind anders sozialisiert als früher. Grundsätzlich glaube ich, dass junge Menschen mit 16 genauso entscheidungsfähig und genauso entscheidungsberechtigt sind wie 66-Jährige. Abgesehen von den juristischen Fragen ist es sinnvoll, ihnen diese Möglichkeit zu geben. Ob man dann überlegt, die Rechtsfähigkeit insgesamt herunterzusetzen, ist wieder eine andere politische Diskussion. Das wäre auch ein möglicher logischer Schluss bei dem Problem.

f79: Ich wähle im Juni auch zum ersten Mal. Was muss ich denn als Erstwählerin beachten, wenn ich ins Wahllokal gehe?

Wehner // Sie sollten darauf achten, dass Sie Ihre 48 Stimmen auch gut nachzählen und sich davor schützen, nicht aus Versehen eine zu viel zu vergeben. Dann wäre Ihr Stimmzettel ungültig. Sie können kumulieren und panaschieren. Das heißt, Sie müssen nicht nur die eine Partei und die Kandidaten der einen Partei wählen, sondern Sie können da munter und fleißig mischen. Dabei können Sie einzelnen Kandidaten bis zu drei Stimmen geben. Wenn Sie zum Beispiel sagen, Sie möchten „Jugend“ wählen, dann könnten Sie sich alle Jugendlichen oder jüngeren Kandidierenden auf allen Parteienlisten ansehen und die auf Ihren Stimmzettel schreiben. Dadurch haben Sie die Möglichkeit, der Jugend eine Stimme zu geben oder eben entsprechenden Parteien oder Listen.

f79: Was würden Sie einem 16- oder 17-Jährigen raten, der sagt: „Ich bleib einfach daheim, ich verstehe das sowieso nicht“?

Wehner // Kommunalwahl-bw.de anzuklicken, die Internetseite der Landeszentrale für politische Bildung zur Kommunalwahl.  Vor allem würde ich ihm sagen, dass er schlecht beraten ist, weil in einer Kommune letztendlich alle relevanten Dinge, vom frühmorgendlichen Zähneputzen über die Wasserversorgung bis eben dann zum Musikboxenverbot, also quasi jede Minute deines Lebens, auch von Kommunalpolitik bestimmt ist.

Foto: © Alex Dietrich, Stuttgart