Pakete durch die Postapokalypse: Death Stranding ist das wichtigste Videospiel des Jahres News & Trends | 09.12.2019 | Philip Thomas

Spielcharakter aus einem Videospiel

Nach jahrelangem Warten ist es da: Death Stranding – das neueste Werk von Star-Spieleentwickler Hideo Kojima. Das Game polarisiert, die Rezensionen reichen von „Meisterwerk“ bis „Rohrkrepierer“. Schließlich sind Videospiel-Welten großer Entwicklerstudios in den vergangenen Jahren immer schneller, lauter und bunter geworden. Death Stranding geht gegen den Zeitgeist und ist gerade deswegen so aktuell.

Eine einsame Gestalt schleppt sich durch eine weite, zerklüftete Landschaft. Sie keucht, immerhin trägt sie einen meterhohen Rucksack aus Metallkoffern auf ihrem Rücken. Hinter einem hüfthohen Fluss gerät der Turm ins Wanken. Sam Porter Bridges hält nur kurz inne und stapft dann weiter über die nasse Wiese. Die Last, die er schultert, wird schließlich nicht in Kilogramm gemessen.

So oder so ähnlich könnte Star-Spieleentwickler Hideo Kojima die Idee zu „Death Stranding“ vor verduzten Produzenten beworben haben. Seine Vision: Explosionen haben die Erde erschüttert und ihre Bewohner in kleine Knotenpunkte versprengt. Dazwischen lauern übersinnliche und unsichtbare Wesen. Spielfigur Sam muss die gekappten Verbindungen wiederherstellen und eine fragmentierte Welt zusammenpuzzeln. Und zwar indem sie Pakete austrägt. Die Idee klingt verrückt, kommt aber offensichtlich an.

Bildausschnitt aus dem Videospiel

Schauspieler Norman Reedus verkörpert den Helden des Spiels: Sam Porter Bridges

Nachdem Kojima bei seinem alten Arbeitgeber Konami wegen zu ambitionierter Projekte 2015 rausgeflogen war, finanzierte Konkurrent Sony dem Querdenker schnell ein eigenes Studio. Das Mastermind hinter der Metal-Gear-Solid-Reihe musste schließlich den nächsten Hit in der Schublade haben. In eine solche lässt sich das fertige Spiel aber gar nicht stecken. Schließlich wurde der 56-Jährige nicht nur mit viel Geld, sondern auch mit kreativer Freiheit ausgestattet. Ein Risiko: Dass zu viel künstlerische Freiheit auch in die Hose gehen kann, bewies Regisseur Rian Johnson 2017 mit „Star Wars – Die letzten Jedi“. Die milliardenschwere Marke ist seitdem unwiderruflich beschädigt.

Auch Kojimas Vision ist nicht fehlerfrei: Menüs, in denen Spieler in Death Stranding viel Zeit verbringen, sind kleinteilig und unnötig verschachtelt. Der Kontrast zu den begrenzten Eingabemöglichkeiten auf Sams schlichten Pfaden mag zuerst witzig sein, ist aber spätestens nach der zehnten Lieferung nur noch nervig. Gezahlt wird in der Zukunft übrigens mit Likes. Lebenswichtige Medikamente an einen abgelegenen Außenposten? 64 Likes. Ersatzteile für einen Knotenpunkt? 25 Daumen.

Auch der Rest des Spiels verdient viel Lob: Mit Baby vor der Brust und Paketen auf dem Rücken schleppt sich Sam also durch die verwahrlosten Staaten von Amerika. Die Touren sind keine Selbstläufer: In der Einöde lauern Banditen, übersinnliche und unsichtbare Schrecken, die mit dem Neugeborenen sichtbar gemacht werden können, sowie Regen, der alles altern lässt, was er benetzt.  Auf seinen Wegen ist Sam nicht alleine, er ist einsam. Das überträgt sich im besten Fall auf die Spieler. Die müssen sich auf Einöde einlassen und auch dem Drang widerstehen, nebenbei Musik oder Podcasts laufen zu lassen. Eine herrliche Entschleunigung für die einen. Pure Langeweile für die anderen.

Seit mehr als 20 Jahren polarisiert Kojima. Er belohnt unkonventionelle Spielweisen und reizt die Hardware seiner Zeit voll aus: Im ersten Metal-Gear-Teil mussten verdutze Spieler ihre Controller umstöpseln, damit ein übersinnlicher Endgegner ihre Bewegungen nicht mehr vorhersehen konnte. Im dritten Ableger durften Zocker dem Kampf mit einem senilen Scharfschützen gar ganz aus dem Weg gehen. Und zwar indem sie die eingebaute Uhr ihrer Konsole einfach ein paar Jahre vorstellten. Der Widersacher erlag so dem Alter und keiner Kugel.

Kopf an Kopf: Sam(l.) mit Fragile (Léa Seydoux)

Ein magischer Moment fehlt Death Stranding zugegebenermaßen. Das Spiel zaubert trotzdem immer wieder ein melancholisches Lächeln auf mein Gesicht. Etwa, wenn nach einem beschwerlichen Aufstieg und minutenlanger Stille ausgesuchte Ambient-Post-Rock-Töne durch die Kopfhörer klingen und virtuelle Sonnenstrahlen über steinige Bergketten scheinen. Passend zur Kulisse ist auch das Gameplay angenehm reduziert: Die Schultertasten des Controllers, in zahllosen Games für Kugelhagel, Granaten und Geschwindigkeit reserviert, lassen Spieler in Death Stranding lediglich mit ihrem Rucksack hantieren.

Während erfahrene Zocker bis zum Abspann rund 40 Stunden lang schleppen und vor allem Geduld brauchen, benötigen sie zum Verstehen der Geschichte Stift und Notizblock. Schließlich wird die kryptische Handlung Kojima-typisch in minutenlangen Zwischensequenzen sowie Textnachrichten erzählt. Den cineastisch inszenierten Einspielern sieht man bis zum Schluss gerne zu. Immerhin standen namhafte Schauspieler wie Norman Reedus, Mads Mikkelsen und Léa Seydoux für ihre digitalen Abbilder Pate.

Der größte Star bleibt aber Kojima. „Ich möchte etwas für Menschen auf der ganzen Welt erschaffen“, sagt der Schöpfer. In seinem Heimatland Japan brach das Spiel Verkaufsrekorde. Im Vereinten Königreich liegt Death Stranding derweil hinter den Erwartungen und Titeln wie Days Gone.  Darin kämpfen Spieler gegen Horden von untoten Zombies. Mit hirnlosen Massen hat Hideo Kojima nichts zu tun.

Bilder: © 2019 Sony Interactive Entertainment