»Am Boden zerstört«: Wie ein Freiburger sein Geld im Netz verzockte STADTGEPLAUDER | 18.02.2022 | Till Neumann

Mann vor einen Laptop im dunkeln und zockt ein Online Glücksspiel Im Sog: Der Freiburger verbrachte Wochen und Monate mit Glücksspielen im Internet - und verlor viel Geld.

Seit Juli ist Online-Glücksspiel in Deutschland legal. Ein neuer Staatsvertrag macht das ­möglich und will Glücksritter vor dem Ruin bewahren. Erlebt hat das der Freiburger Markus Vogt (Name geändert). Der 33-Jährige verlor rund 20.000 Euro. Ein Experte hält die neuen Regeln für einen faulen Kompromiss. Doch der Staat verdient Milliarden damit.

„Ich bin da irgendwie reingeschlittert“, sagt Markus Vogt. Er startete vor rund fünf Jahren mit kleinen Sportwetten: Fünf bis zehn Euro setzte er auf Kombi-Fußballpartien. „Um es ein bisschen spannender zu machen“, sagt der Freiburger. Der Online-Anbieter bwin hatte auch eine Casinorubrik, die probierte er einfach mal aus. Unverhofft gewann er schnell knapp 1000 Euro. „Das war pures Adrenalin“, erinnert sich Vogt.

„Man hat nur eine Zahl“

Er wollte mehr, merkte aber: Sich Gewinne auszahlen zu lassen, ist gar nicht so einfach. Bevor er den Betrag bekommt, muss er weiterspielen. „Sie sagen dir: Setze 20 Euro ein, wir legen 20 drauf – das muss man immer wieder machen, um den Gewinn zu erhalten“, erklärt Vogt. Je mehr er spielte, desto abstrakter wurde es: „Man hat nur eine Zahl, keinen Stapel Scheine vor sich – das ist eine der ganz üblen Sachen beim Online-Glücksspiel.“

Die Verluste häuften sich. Er wollte schlauer sein als die Maschine, redete sich ein, es im Griff zu haben. Manchmal setzte er sich Limits: Beim Betrag X höre ich auf. Doch der Sog war zu groß. Er ließ sich auch bei Anbietern sperren, spielte dann aber einfach bei einem anderen weiter. Mittlerweile kann er sagen: „Die Gewinne von heute sind die Verluste von morgen: Kommen 50 Euro rein, gehen 500 weg.“

„Ich dachte, ich habe es im Griff“

Spielen konnte Vogt zu fast jeder Uhrzeit: morgens nach dem Aufstehen, mittags im Büro oder nachts, wenn seine Freundin schlief. „Ich war auf Adrenalin, aber todmüde, man kommt sehr schwer davon los“, erinnert er sich. Vor seiner Partnerin und dem Umfeld verheimlichte er die Sucht fast ein halbes Jahr. Dann hatte er einen Nervenzusammenbruch. Hilfe suchen wollte er nicht: „Ich dachte, ich habe es im Griff.“ Doch er wurde rückfällig, vertuschte es weiter. Schließlich zog er die Notbremse: „Mir ging es so schlecht, mich zu offenbaren war das kleinere Übel als weiterzumachen.“

Seine Freundin riet, professionelle Hilfe zu suchen. Bei der AGJ Suchtberatung in Freiburg fand Vogt einen Platz für eine ambulante Reha. Ein Jahr lang zog er das durch. Dann kam die Pandemie, Vogt wurde erneut mehrfach rückfällig. Seit November besucht er nun eine Selbsthilfegruppe bei der Evangelischen Stadtmission Freiburg. Die stabilisiert ihn. „Man muss lernen, mit den Reizen umzugehen, ihnen standzuhalten“, sagt Vogt. Seit Juni hat er nicht mehr gespielt.

„Fast jeder hat Schulden“

Willi Vötter

Experte: Willi Vötter begleitet Glücksspiel-Süchtige.

Verantwortlich für die Begleitung der Hilfsgruppe ist Willi Vötter. Der Sozialarbeiter erlebt seit der Corona-Pandemie mehr Online-Spielende. „Fast jeder hat Schulden“, sagt der 61-Jährige. 20.000 bis 80.000 Euro seien es häufig. Die Betroffenen kämpften mit Schuldgefühlen – auch gegenüber Angehörigen. Er rät ihnen: „Es ist gut, sich anderen anzuvertrauen. Es loszuwerden ist ein riesiger Schritt.“ Der nächste sei professionelle Hilfe. Fast alle seine Klienten bräuchten eine Finanzverwaltung. Markus Vogt sieht er auf einem guten Weg: „Er ist reflektiert und achtsam, hat eine stabile Beziehung, das ist wichtig.“ Vom neuen Glücksspielstaatsvertrag hält Vötter wenig: Es sei zwar positiv, dass Spieler zentral gesperrt werden könnten, die flächendeckende Legalisierung sei jedoch katastrophal.

Das bestätigt auch der Glücksspielforscher Tobias Hayer von der Universität Bremen. Für ihn sind die Regelungen ein „fauler Kompromiss“. Beispielsweise sieht er das neue Einzahlungslimit für Online-Glücksspiele kritisch: Demnach kann jeder Spieler im Monat bis zu 1000 Euro einzahlen und damit verlieren. „Das ist ein viel zu hoher Betrag“, sagt der 47-Jährige. Wer gebe 12.000 Euro im Jahr für ein Hobby mit Suchtgefahren aus?

Auch ein Früherkennungssystem für gefährdete Online-Spieler begrüßt er grundsätzlich. Problematisch sei aber, dass jeder Anbieter ein eigenes Tracking-System nutze. „Das ist, als würde man bei einem Alkoholiker in jeder Kneipe separat erfassen, wie viel er trinkt, keiner weiß aber, wie viel er insgesamt säuft“, sagt Hayer.

»Es gibt zwei sichere Gewinner«

Er ist überzeugt: „Der neue Vertrag dient nicht dem Interesse des Gemeinwohls, sondern dem der Anbieter.“ In der Forschung sei bekannt, dass zwei Faktoren die Wahrscheinlichkeit erhöhten, dass sich jemand verzockt: eine hohe Verfügbarkeit des Spielangebots und die massive Werbung dafür. Es sei also zielführend, die Glücksspiel-Möglichkeiten zu minimieren. Eine Legalisierung aller möglichen Formen des Online-Glücksspiels bewirke das Gegenteil. Zudem verstehe er nicht, warum eine massive Vermarktung des Glücksspiels erlaubt ist. „Das ist in dieser Form ein No-Go“, sagt der Bremer.

Tobias Hayer

„Fauler Kompromiss“: Tobias Hayer erforscht die Folgen der Zockerei.

Hayer sieht zudem die Konkurrenz unter den Anbietern kritisch: „Der Markt ist umkämpft: Wer bietet bessere Boni? Wer hat den besseren Celebrity in der Werbung?“ Zielführender wäre hier eine einzige zentrale Glücksspiel-Plattform. So nutzten die zahlreichen Wettanbieter derzeit alles, was der Vertrag hergebe – und überschritten manchmal die Grenzen. Hayer sagt: „Beim Glücksspiel gibt es zwei sichere Gewinner: die Anbieter und den Staat.“ In den vergangenen Jahren habe Letzterer mit Glücksspiel rund 5,3 Milliarden Euro pro Jahr an Steuern kassiert. Weit mehr als durch den Verkauf von Alkohol.

Die Eltern wissen von nichts

Auch Markus Vogt ist entsetzt, dass Deutschland das Online-Glücksspiel legalisiert hat. „Ich finde das fahrlässig, so werden Existenzen zerstört.“ Er hat rund 20.000 Euro verspielt. Im Vergleich zu anderen Fällen sei er glimpflich davongekommen. Dennoch kann er dem Ganzen auch etwas Positives abgewinnen. In der Reha habe er gelernt, besser auf sich zu achten. Zudem hat er kürzlich seine Freundin geheiratet. Auch sie hat ihm geholfen, nicht mehr zu spielen. Nur seine Eltern wissen bis heute nichts von der Sucht: Er hat es nicht übers Herz gebracht, es zu erzählen.

Glücksspielstaatsvertrag

Seit dem 1. Juli 2021 ist Online-Glücksspiel in Deutschland flächendeckend legal. Damit einher geht eine zentrale Sperrdatei für Abhängige, ein Einzahlungslimit von monatlich 1000 Euro pro Person und eine zentrale Aufsichtsbehörde. Werbung für Sportwetten dürfen zudem keine aktiven Funktionäre oder Profis machen – ein Lothar Matthäus aber schon.

Online-Glücksspiel war seit 2012 lediglich in Schleswig-Holstein legal. Rund eine halbe Million Menschen in Deutschland gelten als problematisch oder abhängig Spielende. Experten wie der Glücksspielforscher Tobias Hayer sehen die neuen Regeln kritisch: „Es wird einige Jahre dauern, bis die Kollateralschäden sichtbar werden – erst dann wird auch die Öffentlichkeit umdenken.“

Hilfsangebot

Unterstützung bietet in Freiburg unter anderem die Psychosoziale Beratungsstelle für Suchtgefährdete und Suchtkranke der Evangelischen Stadtmission Freiburg. Die Selbsthilfegruppe für Spielsüchtige begleitet Willi Vötter. Dort können sich Betroffene hinwenden, aber auch Angehörige oder Freunde von Spielenden. Kontakt: Regio-PSB Freiburg | Lehener Str. 54a, 79106 Freiburg | Telen 0761/285830-0 | Mail voetter@stadtmission-freiburg.de

Fotos: © iStock.com/audioundwerbung, Evangelische Stadtmission Freiburg, Kai Uwe Bohn/Universität Bremen Hochschulkommunikation