»Der Algorithmus darf nie alles sein«: Wie Marcel Thimm zum großen Chef der Sparkasse wurde Finanzwelt | 12.11.2022 | Lars Bargmann

Marcel Thimm bei einer Rede

Großer Auftrieb in der Messe Freiburg. 450 Gäste sind gekommen, um den Festakt zur Verabschiedung von Marcel Thimm und die Antrittsrede seines Nachfolgers Daniel Zeiler als Vorstands­vorsitzender (VV) der Sparkasse Freiburg zu erleben. „Es endet eine Ära“, sagt Oberbürger­meister Martin Horn, der auch Ver­waltungsratschef der Sparkasse ist. 47 Jahre lang hat Thimm bei der Bank gearbeitet, 23 im Vorstand, 11 als Vorsitzender. Es gibt minutenlangen Beifall.

Szenenwechsel: Ein paar Tage vor dem Festakt sitzt Thimm in seinem Büro an der Kajo. Ein Laptop liegt auf dem großen Konferenztisch. Und nicht eine einzige Akte. Es ist nicht irgendein Büro. Im Erkerzimmer im ersten Stock vom Haus zum Walfisch hatte einst Erasmus von Rotterdam seinen Schreibtisch.
Er ist weit gekommen. Der kleine Marcel wuchs in Wyhl am Kaiserstuhl auf, machte seinen Realschulabschluss. Ein Lehrer drückte ihm eine Berufsfibel in die Hand. „Da stand, dass ein Bankkaufmann gut rechnen können muss, Mathe war mein Lieblingsfach.“

Das Vorstellungsgespräch begann stockend, der eingeschüchterte Marcel brachte kaum ein Wort heraus. Erst als der damalige Chef der Sparkasse Emmendingen nach den Geschehnissen in Wyhl fragte, wo der Bau eines Kern­kraftwerks drohte, kam Marcel ins Reden, konnte Argumente pro und contra gut vortragen – nur so bekam er seine Azubistelle. Er schickt voraus, dass es jetzt etwas kitschig wird, aber: „Vom ersten Tag an bis heute ist das mein Traumberuf.“ Er habe sich „immer sauwohl gefühlt“ – als Azubi wie als VV.

Nach der Ausbildung hatte der Jung-Banker seinen ersten Schreibtisch in der Geschäftsstelle Freiamt Sägplatz. Als Leiter einer Ein-Mann-Geschäftsstelle. Thimm fuhr jeden Morgen mit seinem VW Käfer von Wyhl nach Freiamt. Vormittags war er in der Bank, nachmittags setzte er sich in seinen Dienstwagen, ein 127er Fiat, und fuhr damit hügelauf, hügelab zu den Kunden. Holte Bargeld ab, brachte Wechselgeld, Kontoauszüge. Wenn die Kundschaft Nachwuchs bekommen hatte, gab’s noch ein Fünf-Mark-Sparbuch dazu.

Computer gab es damals noch nicht. Wenn ein Kunde 200 Mark abholen wollte, musste Thimm selber einschätzen, ob auf dem Konto genug Geld liegt. War er sich nicht sicher, musste er in der Zentrale anrufen. „Das war dann schon mal peinlich“, sagt er heute und lacht, „vor allem, wenn es ein guter Kunde war.“

Er absolvierte seinen Wehrdienst, wechselte in die Hauptstelle nach Emmendingen, wo er für Privatkunden zuständig war, mit 24 dann zur Kreissparkasse Göppingen, wo er elf Jahre lang die Welt der Firmenkunden kennenlernte. 1994 kam er zurück, wurde in Freiburg erst Abteilungsleiter Firmenkunden, dann Vorstandsmitglied, dann Vorstand, dann, vor elf Jahren, VV. Es gab auch ein Angebot, in die Führungs­etage bei der L-Bank einzusteigen, wie der Sparkassenverbandspräsident Peter Schneider verriet. Thimm lehnte ab.

Marcel Thimm im berühmten Erkerzimmer

Im berühmten Erkerzimmer: Von hier konnte Thimm dem OB zuwinken.

Während dieser Karriere erlebte der Bankensektor einen dramatischen Wandel. Vom persönlichen Bring­dienst bis zum allgegenwärtigen Algorithmus und der Regulatorik in Zeiten, in der Banken überlegen, ob sie überhaupt noch eine Filiale brauchen.

„Das war in all den Jahren ein schleichender Prozess, das habe ich nicht revolutionär erlebt, wohl aber am Anfang immer mal lästig“, sagt der 63-Jährige. Die Regulatorik habe zwei Seiten. „Wir als demokratische Gesellschaft erkennen Missstände, die Absicht in der Reaktion ist dann berechtigt, aber die Kollateral­schäden sind gewaltig und bringen auch neue Ungerechtigkeiten mit sich.“

Als nur ein Beispiel fällt dem Vorstandschef die Wohnimmobilien- kreditrichtline ein. Die Bankenaufsicht wollte die Kreditvergabe an Häuslebauer disziplinieren, die bei der Verrentung keine Schulden mehr haben sollten. Eine ältere Dame mit einem stattlichen Haus muss ins Pflegeheim, die Tochter will das Haus noch nicht verkaufen, vielleicht kommt Mama ja doch zurück. Der Verkauf wäre ein emotionaler Schock. So beantragte die Tochter einen Kredit, um die Pflegekosten zu bezahlen. Die Sparkasse wollte sodann das Haus zu zehn Prozent beleihen. „Es wäre richtig gewesen, den Kredit zu gewähren, aber wir durften es nicht.“ So sei aus gut gedacht schlecht gemacht geworden: „Das ist typisch für Regulierung. Die Individualität des Lebens ist so vielfältig, das kann man gar nicht alles regeln.“

Zu den Emmendinger Zeiten hätte der Banker den Kredit gewährt. Damals sprach noch der Bauch mehr mit, heute muss er sich gegen das Bild „Algorithmus im Anzug“ wehren. „Der Bauch ist dann gut, wenn es ausreichend gute Bäuche gibt. Wir als Kreditwirtschaft hatten zu wenig gute Bäuche“, blickt der Vater zweier Söhne auch kritisch auf die Branche. Wer sich heut­zutage über den Algorithmus hin­wegsetzt, macht sich angreifbar – oder braucht die Traute von Kollegen: „Unser System erzieht eher Menschen, die mit dem Strom schwimmen. Aber der Algo­rithmus darf nie alles sein.“

Große Risiken für die Banker gab es in Südbaden in den vergangenen zehn Jahren kaum. Anders war es kurz nach der Jahrtausendwende, als die Dotcom-Blase platzte. „Da sind uns die Risiken nur so um die Ohren geflogen“, so Thimm. Mit der Basel II getauften Eigen­kapitalvereinbarung wurden die Weichen neu gestellt. „Das war eine radikale Ver-änderung. Seither hat sich die Eigen­kapitalquote bei den Banken und Unter­nehmen massiv erhöht: „Da hat die Regulatorik etwas erzwungen, zu dem wir im Wettbewerb nicht in der Lage gewesen wären.“ Dass Deutschland die Pandemie und nun auch den Krieg in der Ukraine „ordentlich überstehen“ wird, habe mit Basel II viel zu tun.

Manch Bundesbanker im Grabe rumgedreht

Das Abenteuer Euro und EZB hat Thimm anfangs skeptisch bis kritisch gesehen. War dann positiv überrascht, dass die Währungshüter von 1998 bis 2014 „einen sehr guten Job“ gemacht haben. Bis die EZB nicht mehr nur Geld-, sondern auch Wirtschaftspolitik machen wollte, die Märkte mit Geld flutete, den Leitzins auf null senkte, um Kippländern zu helfen, um Einfluss auf Arbeitslosenzahlen zu haben. „Die EZB hat im Prinzip Staaten kreditiert, manch alter Bundesbanker hätte sich im Grabe rumgedreht.“ Die aktuell massive Inflation sei nicht allein, aber auch dadurch angeheizt worden.

Thimm glaubt nicht, dass die Inflation in den nächsten Jahren wieder bei zwei Prozent liegen wird: „Die gigantischen Geldmengen sind in der Welt, sind nachfragewirksam. Die Nachfrage ist größer als die Produktionskapazität. Und solange das Geld draußen ist, wird die Inflation hoch bleiben.“ Nicht bei zehn, aber vielleicht bei fünf Prozent. Die Zinsen würden drunter bleiben, also werde es reale Kaufkraftverluste geben. „Die Inflation ist nur um den Preis einer Rezession zurückzudämmen. Entweder ich muss das Angebot steigern oder die Nachfrage drücken.“ Eigentlich müsste die Wirtschaftspolitik die Bedingungen für Investitionen stärken. Aber die Regierung betreibe mehr Sozialpolitik, also bleibe die Nachfrage hoch. Das trifft auch für den wichtigsten Kredit­bereich zu: die Baubranche. Im Neubau beobachtet Thimm eine „Erstarrung“, die sich erst in zwei, drei Jahren wieder löst. Von 400.000 neuen Wohnungen im Jahr träume man nicht mal mehr in Berlin: „Und das, was jetzt nicht gebaut wird, wird hinterher nicht kompensiert werden.“ Aufs Neukreditgeschäft werde sich das in den kommenden Jahren durchschlagen. Und aufs Risiko: „Wir werden höhere Risiken erleben und mehr Insolvenzen erleben. Ich glaube aber nicht an eine große Pleitewelle, weil die Unternehmer widerstands­fähiger geworden sind.“

Die besonderen Momente in 47 Jahren Sparkasse, schöne oder unschöne, seien immer bei den Kunden gewesen. „Die schönsten waren, wenn es schwierig war, man sich damit auseinandergesetzt hat, man helfen konnte und es dann erfolgreich weiterging.“ Die schlimmsten, wenn es dann trotzdem nicht geklappt hat. Das Bild aber, wonach die Bank einen Regenschirm gibt, wenn es nicht regnet, sei ein falsches: „Regionalbanken sind da anders als börsennotierte. Wir haben einen anderen Auftrag.“

Ein besonderer Moment fällt ihm noch ein: Mitten in der Pandemie, im 2020er Lockdown, in für viele existentiellen Zeiten, sei ein Kunde zu ihm gekommen und habe anonym 100.000 Euro für zehn Einrichtungen gespendet. „Dass dieser Menschen uns ausgesucht hat, damit wir das Geld über unsere Stiftung für die Bürgerschaft weiterreichen, das hat uns stolz ge­macht.“ Und ein bisschen stolz war er dann selbst auch, als Schneider ihm beim Festakt die große baden-württem­bergische Sparkassen-Medaille um den Hals legte. Und das Publikum wieder Beifall spendete.

Fotos: © Peter Hermann – PH-otography, Lars Bargmann