„Explosionsartig gewachsen“: Expertin über assistierten Suizid in Deutschland Featured | 08.10.2025 | Till Neumann
Sich in Ruhe verabschieden: Das wünschen sich immer mehr Menschen in Deutschland
Seit 2020 ist assistierter Suizid in Deutschland erlaubt. Zugang bekommen unter anderem Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS). Deren Sprecherin Wega Wetzel (60) berichtet im Interview mit Redakteur Till Neumann von starker Nachfrage und Hürden, die zu nehmen sind.

Sprecherin: Wega Wetzel von der DGHS
chilli: Marc Kirch (51) hat sich nach langem Leiden für assistierten Suizid entschieden. Ein klassischer Fall?
Wetzel: Leider stellen wir fest, dass mittlerweile auch relativ junge Menschen mit ME/CFS (Long Covid, d. Red.) anfragen. Der klassische durchschnittliche Fall ist bei uns eher der Mensch 80 plus, der wegen Krankheit oder Lebenssattheit anfragt. Jemand, der sein Leben selbstbestimmt beenden will, bevor er ein Pflegefall wird.
chilli: Man muss einige Hürden nehmen. Was sind die größten?
Wetzel: Menschen haben ein Recht, über ihr Leben selbst zu verfügen. Entscheidend ist laut Bundesverfassungsgericht das Kriterium der Freiverantwortlichkeit. Wenn es daran Zweifel gibt, müssen die Antragstellenden sie mit einem Attest nachweisen. Wenn körperliche Erkrankungen das Motiv sind, ist es verhältnismäßig einfach. Wenn es Hinweise auf psychiatrische Probleme gibt, dann gucken wir genau hin. Da werden auch viele abgelehnt.
chilli: Wie hoch ist die Nachfrage?
Wetzel: Es steigt seit dem Verfassungsgerichtsurteil 2020 kontinuierlich an. Die Zahl der Neumitglieder ist explosionsartig gewachsen. 1500 kommen monatlich dazu. Wir haben kürzlich das 50.000ste Vereinsmitglied begrüßt.
chilli: Das sind alles Interessenten an assistiertem Suizid?
Wetzel: Zumindest einige davon, viele Neumitglieder nehmen nur andere Leistungen in Anspruch wie die Hinterlegung der Patientenverfügung und den Rechtsschutz auf deren Durchsetzung. Natürlich stellen nicht alle sofort den Antrag. Viele treibt die Überlegung um, dass man sich einen Notausgang für alle Fälle sichert. Möchte ich die Möglichkeit haben, darauf zurückzugreifen, ist es am einfachsten, wenn ich in einem Verein bin. Das kostet bei uns im Jahr 60 Euro.
chilli: Wie viele Fälle vermitteln Sie?
Wetzel: Im vorigen Jahr waren es 623 Verstorbene, denen wir eine Freitodbegleitung vermittelt hatten. In diesem Jahr wahrscheinlich rund 800. Offizielle Gesamtzahlen für assistierten Suizid in Deutschland gibt es nicht. Wir haben das für 2024 auf 1500 geschätzt. In der Schweiz wird es noch stärker wahrgenommen.
chilli: Wer wird abgelehnt?
Wetzel: Wenn wir Zweifel an der Freiverantwortlichkeit haben und diese nicht ausgeräumt werden können. Wenn es offensichtlich Fälle sind von Menschen in einer akuten psychischen Krise. Oder wenn es Menschen sind, bei denen die Demenz bereits zu weit fortgeschritten ist. Da muss man sagen, dass sie keine freiverantwortliche Entscheidung treffen können, weil sie den Zeitpunkt verpasst haben. Manche Anträge sind auch ein bisschen schräg begründet. Dann können die Fallbearbeiter das Motiv nicht nachvollziehen und lehnen ab.
chilli: Wie viele entscheiden sich kurz vor Schluss um?
Wetzel: Fast niemand. Diejenigen, die den Weg wirklich gehen, sind sehr entschieden. Ich habe bloß von einem Fall in all den Jahren gehört. Das ist auch völlig in Ordnung – bis zur allerletzten Minute. Wenn der Termin verabredet ist, höre ich, dass die Personen sich fast schon drauf freuen. Sie bereiten sich mental darauf vor, ordnen ihre Angelegenheiten und wissen: Dann ist es so weit.
chilli: Wie läuft der letzte Tag?
Wetzel: Der Arzt bringt ein Narkosemedikament in Überdosis mit. Er legt einen Zugang, probiert mit Kochsalzlösung, ob der Patient das Rädchen aufdrehen kann. Dann wird der Beutel umgehängt und das Narkosemittel drangehängt. Dann wird noch mal auf Ehre und Gewissen gefragt, ob die Person es wirklich möchte. Es können die Angehörigen dabei sein, so wie die/der Betroffene und die Familie das für richtig halten. Nach dem Aufdrehen durch den Patienten geht es zügig, bis Atem- und Herz-Kreislauf-Stillstand eintritt. Maximal drei bis vier Minuten.
chilli: Geht das zu Hause?
Wetzel: Ja. Das ist der Wunsch von vielen Mitgliedern.










