„Kein Leben mehr“: Wie die Krankheit ME/CFS einen Freiburger verzweifeln ließ – und viele andere auch Featured | 08.10.2025 | Till Neumann
Aus dem Leben gerissen:
ME/CFS setzt das Leben von vielen
Betroffenen (Symbolbild) schachmatt.
Ans Bett gefesselt. Mit Abdunkelbrille und Schallschutzkopfhörern. Das war der Alltag des Freiburgers Marc Kirch. Das Postvirale Fatigue-Syndrom ME/CFS* – die schwerste Form von Long Covid – hat ihn erdrückt. Es trifft allein in Deutschland Hunderttausende. Sie fühlen sich vom Staat im Stich gelassen. Freiburger Initiativen stemmen sich dagegen. Auch vom Universitätsklinikum sind sie enttäuscht. Dort heißt es: Die Behandlung ist schwierig – doch Fortschritte werden erzielt.
Fünf Minuten am Tablet
Seit dem 17. September ist Marc Kirch nicht mehr am Leben. Nach jahrelangem Leiden und einer für ihn aussichtslosen Lage hatte der 51-Jährige Freiburger eine Entscheidung getroffen: Er wählte den begleiteten Freitod (chilli berichtet). Über die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS, s. S. 12) konnte er seinem Leiden ein Ende bereiten.
14 Tage davor berichtete Kirch per E-Mail dem chilli: „Ich liege in einem abgedunkelten Raum mit einem Gehörschutz und Augenmaske auf, um mich vor Reizen zu schützen.“ Jeder noch so kleine Reiz führe zu einer Verschlechterung. Die Krankheit machte ihn nahezu handlungsunfähig: „An wenigen Tagen in der Woche kann ich für zirka fünf Minuten was an meinem Tablet machen.“ Allein fürs Schreiben einer E-Mail brauche er Stunden, „weil ich immer wieder Pause machen muss“.
Keine Aussicht auf Besserung
Elf Jahre lang litt Kirch nach eigener Aussage an der schweren neuroimmunologischen Erkrankung ME/CFS. Vor acht Jahren dann die Diagnose. Die Auslöser: „ein Influenza-Virus, körperliches Trauma und eine instabile Halswirbelsäule“, so Kirch. Zehn Jahre lebte er in Freiburg, dann in einem Seniorenheim bei Speyer. Schließlich wechselte er nach Bernau bei Berlin. Sein Zustand verschlechterte sich. „Ich wurde hergelockt mit falschen Versprechen“, sagte Kirch. Von falscher Pflege, fehlender medizinischer Hilfe und grenzwertiger Geräuschkulisse ist die Rede. „So wie ich aktuell lebe, habe ich kein Leben mehr“, schrieb er dem chilli. Es gebe keine Aussicht auf Besserung wegen der fehlenden Erforschung der Erkrankung.

Kämpft für seinen Sohn: Gerhard Heiner
In engem Kontakt mit Marc Kirch stand Gerhard Heiner. Der 69-Jährige ist Sprecher der Initiative ME/CFS Freiburg. Sie kämpft um Anerkennung der Krankheit, soziale Sicherung der Betroffenen sowie für eine bessere Behandlung und Erforschung. Heiners Sohn (29) leidet an ME/CFS, musste sein Studium abbrechen, darf zur Vermeidung sogenannter Crashs das Bett nur selten verlassen. Der Fall Marc Kirch hat Heiner erschüttert. Obwohl er weiß, dass das kein Einzelfall ist.
„Systemisches Versagen“
„Jeder kennt jemanden, der betroffen ist“, sagt Heiner. Die Politik nehme das nicht ernst. Lediglich der ehemalige Gesundheitsminister habe etwas gesagt: Karl Lauterbach sprach im Juli von „Staatsversagen“, statt 10 oder 15 Millionen Euro müsse Deutschland eine Milliarde Euro in die Forschung investieren. „Wir sind meilenweit davon entfernt“, sagt Heiner. Er nennt es „systemisches Versagen“.
Laut der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS litten Ende 2024 rund 650.000 Menschen in Deutschland an ME/CFS. 75 Prozent seien arbeitsunfähig, 25 Prozent ans Haus gebunden. Heiner schätzt die Zahl heute auf rund eine Million. Er nennt den Umgang mit den Leidenden „brutale Ignoranz. Und Ignoranz tötet. Siehe Marc Kirch“. Sein größter Wunsch ist, seinen Sohn wieder gesund zu sehen. „Dafür gebe ich alles.“
„Verheerende Zustände“
Auch Irene Kirstein (Name geändert) geht das so. Sie leitet die 2009 gegründete ME/CFS (inkl. Post Covid-ME/CFS) Selbsthilfe Freiburg, ist durch die Krankheit oft ans Haus, manchmal ans Bett gefesselt. Der Fall Marc Kirch trifft sie hart, „wie jedes Mal, wenn jemand nicht aufzufangen ist in diesem haltlosen System“. Zu Kirchs Entschluss sagt sie: „Es ist nachvollziehbar bei den Höllenqualen, verheerenden Zuständen und fehlenden Perspektiven bezüglich medizinischer und sozialer Versorgung.“
Kirstein kennt die Leidenswege: „Betroffene fallen durch alle Netze des Sozial- und Medizinsystems.“ Sie kämpften nicht nur täglich gegen die qualvollen Symptome, sondern auch um die Anerkennung ihrer Krankheit an allen Fronten. Um den korrekten Pflegegrad, um einen adäquaten Grad der Behinderung, um Rente, um Krankengeld, um Behandlungen, um Anerkennung bei Ärzten und im sozialen Umfeld. Kirstein: „Therapien müssen weiterhin selbst bezahlt werden und auf eigene Faust angegangen und gemanagt werden.“
„Marc könnte noch leben“
Betroffene geben zigtausende Euro aus, berichtet Kirstein. „Wenn ich all das nicht selbst seit 2009 erleben würde, würde ich nicht glauben, dass es sowas in einem ‚Sozialstaat‘ gibt: Die Betroffenen werden in den Betten liegen und vergammeln gelassen.“ Für Kirstein ist klar: „Marc könnte noch leben, wenn es im Raum Freiburg eine geeignete Pflegeeinrichtung geben würde!“
Gerhard Heiner und Irene Kirstein sehen auch die Arbeit des Uniklinikums Freiburg kritisch. Wenn sich Betroffene bei Heiner melden, verweist er sie lieber an Kirsteins Selbsthilfe mit mehr als 300 Mitgliedern als an die Klinik. Schon 2023 warfen Betroffene im chilli der Uniklinik vor, ihre Lage durch falsche Behandlungen verschlechtert zu haben. Das Klinikum wies die Vorwürfe zurück. Und heute?
„Betroffene werden unterstützt“

Will helfen: Das Universitätsklinikum Freiburg
„Das Universitätsklinikum Freiburg bietet für Kinder und Erwachsene mit ME/CFS spezialisierte Anlaufstellen, insbesondere in der Infektiologie sowie im Sozialpädiatrischen Zentrum der Kinderklinik“, berichtet Sprecher Johannes Faber. Dort betreue ein interdisziplinäres Team Patient·innen mit Diagnostik, symptomorientierten Therapieempfehlungen, strukturierter Begleitung und Beratung. Faber: „Zwar gibt es bislang keine ursächliche Therapie, doch Betroffene werden durch gezielte Maßnahmen und enge Begleitung unterstützt.“
Die Klinik forscht, betont Faber: Sie sei unter anderem Teil des bundesweiten Pednet-LC-Projekts sowie Teil des Netzwerks Move-ME/CFS BW. Dort würden neue Behandlungsansätze erprobt und bestehende Strukturen weiterentwickelt. Dennoch bleibe die Behandlung leider schwierig, so Faber: „Es handelt sich um ein komplexes Krankheitsbild mit immunologischen, neurologischen und infektiologischen Facetten.“ Es bedürfe intensiver Forschung, um Ursachen zu verstehen und Therapien zu entwickeln. Wichtige Fortschritte seien erzielt worden. „Das weckt die Hoffnung, dass künftig gezieltere Behandlungen möglich werden.“
„Gratis-Hilfe beim Überleben“
Dennoch sagt Faber: „Es gehört zur Wahrheit dazu, dass es leider immer noch Krankheiten gibt, die nicht ursächlich behandelbar oder heilbar sind.“ Eine solche Diagnose sei für Betroffene und Angehörige oft sehr schwer. „Wir nehmen die Verzweiflung der Betroffenen sehr ernst.“ Sie sei Ansporn für weitere Forschung.
Kleine Fortschritte nimmt auch Kirstein wahr: „In Einzelfällen verlaufen Pflegebegutachtungen besser.“ Es werde auf Anhieb ein adäquaterer Pflegegrad gegeben. Außerdem wachse langsam ein gesellschaftliches Bewusstsein. In Freiburg und Umgebung gebe es nun das ehrenamtliche Pacingteam. „Der Verein bietet niederschwellige Gratis-Hilfe beim Überleben im Alltag mit ME/CFS“, sagt Kirstein. Zudem plane die Uniklinik eine aufsuchende Studie für sehr schwer Betroffene.
„Endlich mehr Geld“
Auch Heiners Arbeit erfährt Anerkennung: 2024 hat er den Preis für Bürgerschaftliches Engagement der Stadt Freiburg erhalten. Nun ist er für den bundesweiten Deutschen Engagementpreis 2025 nominiert. „Eine große Ehre”, sagt Heiner.
Marc Kirch holt diese Würdigung nicht zurück ins Leben. Vielleicht verschafft es seinem dringlichsten Wunsch jedoch mehr Gehör: „Dass endlich mehr Geld für die Erforschung der Erkrankung bereitgestellt wird.“
Hilfe für Betroffene
- ME/CFS (inkl. Post COVID-ME/CFS) Selbsthilfe Freiburg: mecfs.sh.freiburg@gmx.de
- Initiative ME/CFS Freiburg: kontakt@mecfs-freiburg.de
* ME/CFS: Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom
chilli-Berichte zum Thema
- „Keine ärztliche Hilfe“: Wie Betroffene unter dem Fatigue-Syndrom leiden – und die Uniklinik kritisieren (Dezember 2023)
- „Bitter enttäuschte Hoffnungen“: ME/CFS-Erkrankte leiden und mobilisieren (Mai 2025)
- „Kein Leben mehr“: Wie die Krankheit ME/CFS einen Freiburger verzweifeln ließ – und viele andere auch (Oktober 2025)
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