Operation Organspende: Freiburger Ärzte, Patienten und Abgeordnete in kontroverser Debatte Gesundheit | 14.01.2020 | Philip Thomas & Lars Bargmann

Tag für Tag sterben Menschen, weil es nicht genug Organspender gibt. Gerade einmal elf Spender kommen hierzulande auf eine Millionen Einwohner. In Spanien sind es 46. Die Abgeordneten im Deutschen Bundestag haben – ohne Fraktionsdisziplin – gegen eine Widerspruchslösung gestimmt. Spender müssen sich damit auch weiterhin aktiv für eine Entnahme ihrer Organe entscheiden. Bereits im September fing das chilli-Magazin Stimmen aus der Freiburger Uniklinik, Politik und von Patienten ein.

Die neun europäischen Länder mit den meisten Organspenden setzen auf die Widerspruchslösung, wonach jeder Bürger erst mal automatisch Spender ist. Freiburger Ärzte und Patienten haben Zweifel, dass dadurch die Zahlen steigen. Eine chilli-Umfrage unter acht Bundestagsabgeordneten aus der Region zeigt ein differentes Bild. Der Verein „Junge Helden“ plädiert in einem Gastbeitrag für die Widerspruchslösung.

Laut einer Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung vom vergangenen Jahr ist die Zustimmung bei Organspenden so hoch wie nie: 84 Prozent der Befragten gaben an, eine positive Einstellung zum Thema Organspende zu haben. Aber nur 36 Prozent von ihnen besitzen einen Spenderausweis. „Wir haben die höchsten Zustimmungsraten. Das kommt in der Klinik aber nicht immer an“, sagte Burkhard Tapp, Leiter der Regionalgruppe Südbaden des Bundesverbands der Organtransplantierten dem chilli im September 2019. Tatsächlich fehlten laut der Deutschen Stiftung Organtransplantation Ende 2018 exakt 9.697 Herzen, Lungen, Lebern, Bauchspeicheldrüsen und Nieren. Die Zahl der Organspender im vergangenen Jahr: 955.

Auch deswegen muss seit 2012 in jedem der rund 1250 deutschen Krankenhäuser, in denen Organe entnommen werden können, ein Facharzt als Transplantationsbeauftragter freigestellt werden. Am Freiburger Uniklinikum ist das Klaus Michael Lücking. Der Arzt sprach im Herbst vergangenen Jahres in der Angelegenheit ausdrücklich für sich selbst. Die Organspende werde aktuell innerhalb der Klinik intensiv und kontrovers diskutiert. In Freiburg sind in den vergangenen 50 Jahren rund 4.700 Organe transplantiert worden.

Der 56-Jährige holt seinen Organspendeausweis aus der Brieftasche. Darauf steht geschrieben: „Für den Fall, dass nach meinem Tod …“ Er zeigt auf das letzte Wort. „In Deutschland meint das den Hirntod“, betont Lücking. Der unumkehrbare Ausfall der gesamten Hirnfunktion ist eine Grundvoraussetzung für eine Organentnahme. Spenden nach Herzstillstand sind demnach verboten. „Das ist nicht überall so“, so Lücking.

Umstritten: Sollte jeder Deutsche automatisch Spender sein?

In anderen europäischen Ländern können Organe auch nach einem Herz-Kreislauf-Stillstand entnommen werden. Als Beispiel nennt er die Schweiz, die Niederlande oder das Vereinigte Königreich: Fast die Hälfte aller Spenden geschehen dort nach dem endgültigen Kreislaufzusammenbruch.

Wenn der Hirntod bei einem Patienten absehbar wird, bespricht Lücking als Beauftragter mit dem Ärzteteam und schließlich den Angehörigen, ob eine Organspende in Frage kommt. Ein Ausweis als klarer Auftrag könne an dieser Stelle alle Beteiligten ungemein entlasten. Leider sei das die Ausnahme: „Viele wissen in der Situation nicht, was sie wollen, wie sie entscheiden sollen. In der Situation heißt keine Entscheidung dann Nein.“ Und das bedeutet potentiell den Tod eines Anderen: Statistisch gesehen sterben in Deutschland jeden Tag drei Menschen, weil Spenderorgane fehlen.

In knapp der Hälfte aller Fälle lehnten Patienten oder Angehörige in Freiburg eine Spende ab. „Nur bei fünf Prozent liegen Ausweis oder Verfügung vor“, erzählt Lücking. Eine starke Diskrepanz zur Umfrage der Bundeszentrale. Die Gründe gegen eine Organspende seien vielfältig: „Viele Angehörige möchten nicht, dass ihre Lieben aufgeschnitten werden. Sie wollen den Hirntod nicht als den Tod wahrhaben, wenn der Körper noch warm und rosig ist.“ Hinzu komme die Befürchtung, dass nicht alles medizinisch Mögliche getan werde, um den Menschen ins Leben zurückzuholen. „Dabei werden potentielle Organspender in der Regel länger intensivmedizinisch behandelt“, so der Experte.

Neben den nackten Zahlen kranke es oftmals auch an der Tauglichkeit der gespendeten Organe. Nicht jedes zur Spende freigegebene Organ könne transplantiert werden: „Der 25-jährige Motorradfahrer, der auf dem Schauinsland verunglückt, ist die Ausnahme.“ Der durchschnittliche Spender sei 55 Jahre alt und werde eher wegen einer Hirnblutung in Freiburg eingeliefert. Dessen Organe könnten beispielsweise durch Vorerkrankungen, Nikotin oder Alkohol geschädigt sein. Schließlich solle ein transplantiertes Organ im Menschen möglichst lange funktionieren. „Das macht den ohnehin geringen Fundus noch kleiner“, so Lücking.

Auch finanzielle Aspekte belasten das System: Organspenden seien in Krankenhäusern lange unterfinanziert gewesen. Maximal 5.000 Euro pro Organspende wurden laut Lücking bezuschusst. Seit einer Gesetzesänderung im Frühjahr seien es rund 20.000 Euro. „Mit Organspenden soll man kein Geld verdienen, aber die Kliniken müssen ihre Kosten decken“, sagt er. Im Falle der Uniklinik mit einem Jahresumsatz von knapp 800 Millionen Euro falle das nicht stark ins Gewicht, „bei kleineren Kliniken aber schon.“

„Ich persönlich glaube, dass wir hier und heute bei der Zustimmungslösung bleiben sollten“, sagt Lücking. Die hatte eine Gruppe um Grünen-Chefin Annalena Baerbock als Reaktion auf die von CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn und anderen vorgelegte Widerspruchslösung erarbeitet. Am Donnerstag kommt es zur Abstimmung im Bundestag. Von den Abgeordneten aus der Region sind Kerstin Andreae (Grüne), Christoph Hoffmann (FDP), Thomas Seitz (AfD), Peter Weiß (CDU) und Gerhard Zickenheiner (Grüne) für die Zustimmungslösung. Johannes Fechner (SPD) und Matern von Marschall (CDU) präferieren die Widerspruchslösung. Tobias Pflüger (Linke) war im September 2019 noch unentschlossen.*

Für Anna Barbara Sum vom Verein Junge Helden ist es Zeit, etwas grundlegend zu ändern. Zeit, ein System durchzusetzen, das der hohen Bereitschaft der Bevölkerung zur Organspende Rechnung trägt, Zeit für die Widerspruchslösung.

Lücking tendiert indes zur Lösung von Baerbock: „Wir müssen Hausärzte in die Lage versetzen, ihre Patienten umfassend aufzuklären.“ Eine bewusste und gut informierte Entscheidung sei besser als die von Spahn geplante Widerspruchslösung. Die verkürze bloß die Diskussion. Tapps Kollegin Ulrike Reitz-Nave sieht das ähnlich. Es sei richtig, Hausärzte bei Organspenden einzubinden. „Die Frage ist allerdings, ob das zeitlich geleistet werden kann. Ich habe daran starke Zweifel“, sagt sie.

Von spanischen Verhältnissen mit knapp 46 Spendern pro einer Millionen Einwohnern ist Deutschland weit entfernt. Damit habe laut Lapp aber die dort gültige Widerspruchslösung weniger zu tun als mit der Organisation in den Krankenhäusern. Bis zu drei Angestellte widmeten sich dort dem Thema.

In Deutschland ist eine Folge das lange Warten auf ein Organ. „Es gibt Menschen, die acht Jahre und länger auf eine Niere warten“, so Lücking. Bei Bernhard Gehri waren es elf Jahre. Mit 16 bekam er seine Diagnose: Nephritis. Eine chronische Entzündung der Niere. „Das Organ ist so stark, dass es das aushalten kann, aber die Krankheit ist nicht heilbar“, sagt der heute 50-Jährige in einem chilli-Interview aus dem Herbst 2019. Er wusste, dass er mit 30 ein Transplantat braucht. „Ich habe mein Leben danach ausgerichtet und entsprechend geplant, mich selbstständig gemacht“, so der Unternehmensberater aus Freiburg.

„1997 ging noch alles“, sagt er. 1998 ging dann nichts mehr. „Im Paris-Urlaub musste meine Freundin für mich die Koffer tragen“, erinnert er sich. Noch im selben Jahr folgte die erste Dialyse. Bis zu acht Stunden dauerte die Blutreinigung. „Vor dem Transplantat habe ich von einer Woche nur drei Tage zum Leben gehabt.“ Nach dem langen Warten folgte im Mai 2009 die Operation in Freiburg. Die Leidenszeit habe ihn geprägt: Noch heute achtet Gehri auf seine Ernährung und trinkt besonderen Tee. Zur Dialyse muss er heute noch. Allerdings nur einmal alle sechs Wochen.

Auch er plädiert gegen die Widerspruchslösung: „Wir haben in Deutschland nicht die Struktur, um das zu verkraften. Das Gesundheitssystem hat nicht ausreichend Personal und Krankenhäuser, auf dem Land dazu zu wenig Operationssäle.“ Die Entnahmeprozedur sei lang und aufwendig. „Das blockiert OPs für Patienten, die noch am Leben sind“, so Gehri. Widerspruchslösung oder nicht – mit der aktuellen Debatte stellen sich jetzt deutlich mehr Menschen einer lebenswichtigen Entscheidung.

*Die ausführlichen Statements der regionalen Bundestagsabgeordneten finden Sie hier: Politiker aus der Region zur Organspende

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