Die leisen und die großen Töne: Brüderlicher Bolero Filmtipp | 24.12.2024 | Erika Weisser

Zwei Männer am Strand

Thibaut Desormeaux und Jimmy Lecoq sind Brüder. Doch sie kennen sich nicht,  wissen nicht einmal von der Existenz des anderen: Thibaut lebt in Paris und ist als gefeierter Stardirigent in den Konzertsälen der Welt zu Hause, Jimmy arbeitet als Koch in einer Schulkantine in einem Bergarbeiternest im Norden Frankreichs.

Dass sich ihre Wege schließlich doch kreuzen, ist einer lebensbedrohlichen Krankheit zu „verdanken“: Bei Thibaut wird Leukämie diagnostiziert; seine einzige Hoffnung die Knochenmarkspende eines nahen Verwandten. Als seine Schwester Rose als Spenderin ausfällt, erfährt er, dass er als Neugeborener von einer wohlhabenden bildungsbürgerlichen Familie adoptiert wurde. Und dass er eben diesen unbekannten jüngeren Bruder Jimmy hat: Der einzige Mensch, der ihm schnell helfen kann.

Die erste Begegnung verläuft von Jimmys Seite ziemlich eisig: Er hat bis zum Tod der Mutter abwechselnd bei dieser und seinen späteren, sehr liebevollen mittellosen Adoptiveltern gelebt und hatte nie die Chance, etwas aus sich zu machen. Etwa sein ebenfalls vorhandenes großes musikalisches Talent für etwas anderes zu nutzen als für das Posaunenspiel im örtlichen Fanfaren-Musikverein.

Doch dann kommen die Brüder sich näher – nicht zuletzt über die gemeinsame Begeisterung für Jazz. Und über die Knochenmarkspende, von der Jimmy allerdings von seiner Mutter Claudine überzeugt werden muss: Sie habe ihn schließlich zu Solidarität erzogen – die er übrigens täglich praktiziert, indem er das übrig gebliebene Essen aus der Schulkantine an die Arbeiter weitergibt, die „ihre“ von der Schließung bedrohte Fabrik besetzt haben.

Dieser Arbeitskampf liefert schließlich das Motiv für ein musikalisches Experiment, das sich als verlässliches Bindeglied zwischen den Brüdern erweist: Maurice Ravel, weiß Thibaut, habe in seinen „Bolero“ schließlich den Maschinentakt einer Fabrik eingearbeitet. Er bringt Jimmy die Grundlagen des Dirigierens bei und studiert mit ihm das Stück im Verein ein – ohne proletarische gegen die großbürgerliche Musikpraxis auszuspielen.

Ein großartiger, sehr berührender, doch niemals weichgespülter Film – mit einem widerspenstig triumphalen Finale. 

Die leisen und die großen Töne
Frankreich 2024
Regie: Emmanuel Courcol
Mit: Benjamin Lavernhe, Pierre Lottin, Sarah Suco, Antonin Lartaud, Clémence Massart u.a.
Verleih: Neue Visionen
Laufzeit: 103 Minuten
Start: 26. Dezember 2024

Foto: © Neue Visionen