Trennungskinder: Wenn Eltern mit harten Bandagen ums Sorgerecht streiten Familienpolitik | 23.06.2020 | Arwen Stock

Eltern die sich streiten, Kind sitz daneben

Eltern-Kind-Entfremdung ist die bewusste Manipulation eines Elternteils mit dem Ziel Kontaktabbruch des Kindes zum anderen Elternteil. Meist sind Väter, seltener Mütter davon betroffen. Julia Bleser hat jüngst den Verein Elternfrieden gegründet, der kostenlos und bundesweit eine spezialisierte Beratung in solchen Konfliktlagen anbietet.

Zunächst ist die Kommunikation zwischen den getrennten oder geschiedenen Eltern friedlich. Doch dann gibt es einen neuen Partner oder eine neue Partnerin. Vordergründig drehen sich die nun aufkommenden Konflikte um das Kindswohl, hintergründig sind die Motive aber oft Macht, Angst und Rache.

„Das Kind ist immer der wundeste Punkt bei Eltern“, weiß Julia Bleser. Die 39-jährige Wirtschaftspsychologin und systemische Bewusstseins-Coach forscht gerade an der Eltern-Kind-Entfremdung und hat jüngst den Verein Elternfrieden gegründet. Die Thematik kennt sie auch aus persönlicher Erfahrung: Ihre heute 15-jährige Tochter hatte nach der Scheidung zunächst bei ihr gewohnt. Dann holte sie der Vater per Eilverfahren zu sich, wo sie seither lebt.

„Es ist gar nicht so schwierig, den Aufenthalt des Kindes mit anonymen Zeugen, Gefährdungsmeldungen beim Jugendamt und Eilanträgen wegen Kindswohlgefährdung zu verlegen“, sagt Bleser und ergänzt: „Wer zuerst beim Jugendamt diesen Schritt wagt, der hat gute Karten.“ Da gebe es Fachkanzleien, die sich darauf spezialisiert hätten. Mit einem Eilantrag werde im Erstverfahren der Aufenthalt des Kindes zum anderen Elternteil verlegt. Beim viel späteren Hauptverfahren würde das Kind nach dem Kontinuitätsprinzip dort bleiben.

Einmal im anderen Haushalt lebend, kann die Entfremdung vorangetrieben werden. Die Standardsätze seien: „Der Papa hat dich nicht mehr lieb, der zahlt nicht für dich, der interessiert sich nicht für dich.“ Wenn das erfolgreich ist, möchte das Kind zum Zeitpunkt des Hauptverfahrens nicht mehr zurück. Zum Entfremdungs-Syndrom ist es gekommen, wenn das Kind ein Elternteil komplett ablehnt. Laut Bleser geht das so weit, dass Kinder Briefe mit dem Wunsch schreiben, der Vater oder die Mutter mögen tot sein.

Julia Bleser

Julia Bleser hat den Verein „Eltern­frieden“ gegründet. Er bietet Beratung in Konflikt­situationen beim Streit ums Sorgerecht, die zum Kontaktabbruch zwischen Kind und einem Elternteil führen – mit eklatanten Folgen für alle Beteiligten.

„Als Elternteil muss man erst einmal aufpassen, dass man nicht durchdreht und das bestätigt, was vorgeworfen wird“, berichtet die Vereinsgründerin. Die Nachfrage ist groß: Noch bevor sie die Internetseite erstellt hatte, war sie mit ihrem Angebot in Foren präsent und hatte dort bereits 150 Anfragen bekommen. Im März 2020 erfolgte die Gründung des Vereins, der es sich zum Ziel gemacht hat, das Thema Eltern-Kind-Entfremdung publiker zu machen, zu informieren, die beteiligten Professionen zusammenzuschließen und den Fokus in diesen Prozessen auf das Kind zu lenken.

Auf der Startseite www.elternfrieden.com können sich Ratsuchende in einen Online-Kalender eintragen. Dienstag und Donnerstag rufen Bleser und ihr Team zurück und beraten 45 Minuten kostenlos. Wer Mitglied im Verein ist, hat auch Zugang zu Online-Selbsthilfegruppen, Listen von spezialisierten Anwälten, Heilpädagogen oder Sprachtherapeuten. Ratsuchende haben oft gerade Gerichtsverfahren anhängig. Andere wiederum leben seit Jahren mit der Entfremdung, haben die Kinder Monate und Jahre nicht gesehen. In der Beratung dreht es sich laut Bleser oft darum, „diese Mütter und Väter emotional aufzufangen“.

„Kinder brauchen starke Eltern“

„Für die Kinder ist die Hochstrittigkeit am schlimmsten“, warnt Bleser. Loyalitätskonflikt, innere Zerrissenheit, Depressionen bereits in der Pubertät, Suizidalität, Bindungsstörungen im Erwachsenenalter, mangelndes Selbstvertrauen, Identitätskonflikte können die Folge sein. Die Vereinsgründerin kennt die ersten Anzeichen: „Die Mädchen sind zwar gut in der Schule, leiden aber nach innen; die Jungs zeigen das eher nach außen und werden aggressiv.“

Bleser weiß: „Die Kinder verlieren auf jeder Stufe.“ Sie tragen durch die Entfremdung eine Hypothek in sich, teilweise ein Leben lang. Zunächst würden sie den anderen Elternteil vermissen, dann unter größten Verlustängsten leiden. Später wollen Kinder oft die entfremdeten Elternteile kennenlernen und seien dann erschüttert, wenn sie erfahren, dass dieser über Jahre alles versucht hat, teils Anwaltskosten von zehntausenden Euro hatte und irgendwann nicht mehr konnte.

„Es gibt Fälle, dass die Kinder mit 16, 17 auf den Trichter kommen und dann den Elternteil, der sie entfremdet hat, komplett ablehnen“, berichtet die Vereinsgründerin, was für die Kinder zum zweiten emotionalen Bruch führt.

Bei den offiziellen Stellen sieht die Vereinsgründerin Nachholbedarf: Viele Jugendamtsmitarbeiter kennen laut ihr das Entfremdungs-Phänomen nicht. Amtsrichter seien nicht geschult, würden sich oft auf den Verfahrensbeistand verlassen. Oft würden die falschen Fragen gestellt, dabei gebe es einen anerkannten Fragebogen dazu. Doch es gebe auch erfahrene Richter, die sich fürs Kindsrecht einsetzen. Die würden sich am Modell der frühen Intervention orientieren, die Eltern sofort zu begleiteten Gesprächen verpflichten und sagen: „Ich entscheide heute nicht über das Aufenthaltsbestimmungsrecht.“

Da das jedoch die absolute Ausnahme sei, empfiehlt Bleser: Sobald man spürt, dass sich etwas anbahnt oder ein entsprechender Antrag eingeht, sofort einen Anwalt mit Spezialisierung auf Sorge- und Kindschaftsrecht nehmen. Diese Experten hätten ein Notfalltelefon und seien innerhalb von 24 Stunden am Start. Sie hat den Verein mit Beratungsangebot deshalb gegründet, um dann gebündeltes Wissen weiterzugeben und weil es bei der normalen Familienberatung keine Unterstützung in solchen Situationen gebe. Sie versteht die Schockstarre in der Situation, warnt jedoch eindringlich: nicht blind in so ein Verfahren reinmarschieren. Denn sie hat noch keinen Fall erlebt, in dem der Aufenthalt zurückgesprochen wurde.

„So ein Prozess ist eine Dauertraumatisierung“, betont sie – für die Kinder, für die Eltern, vor allem für den entfremdeten Elternteil ohne Kontakt zum Kind.

Mit dem Verein möchte Bleser frühzeitig mit Eltern in Trennungsprozessen arbeiten. „Kinder brauchen starke Eltern“, betont sie. Das Ziel sei die Prävention. Und der Verein baut gerade eine Gruppe für Trennungskinder und -jugendliche auf. Ob das ankommt, weiß sie nicht. Bislang hat sich erst einmal ein 18-jähriger Ratsuchender an sie gewandt. Das neutrale Angebot hält sie dennoch für wichtig: „Wenn man nur ein Kind davor retten kann, durch so eine jahrelange Hölle zu gehen, dann lohnt es sich schon, sich dafür einzusetzen.“

Info
www.elternfrieden.com

Fotos: © iStock.com/RomoloTavani, privat