Bedrohte Biotope: Martin Gengs Kampf für alte Apfelkulturen Neuigkeiten | 10.11.2018 | Philip Thomas

2000 Apfelsorten wachsen in Deutschland. Jedes Jahr werden es weniger. Lange Züchtungsprozesse, Massenanbau und Pestizide verdrängen immer mehr alte Sorten. Martin Geng kämpft auf seinen Streuobstwiesen in Staufen für den Erhalt dieser Früchte – komplett ohne Pestizide und Spritzmittel.

Die Mehrheit der Bevölkerung beißt nicht gerne in den sauren Apfel und bevorzugt neue, süße Kultursorten. Das ist messbar: Nach Schätzungen des Naturschutzbundes Deutschland sind deutsche Streuobstwiesen seit der Nachkriegszeit bis zum Beginn der 2000er von insgesamt 1,5 Millionen auf 0,5 Millionen Hektar zusammengeschrumpft. „Vielerorts verwahrlosen Streuobstwiesen“, bestätigt Martin Geng, der im Obstparadies Staufen in den vergangenen zehn Jahren mehr als 280 alte Apfelsorten neu angepflanzt hat.

Notwendig gemacht hat diese Rettungsmaßnahme auch die Agrarpolitik: Um Obstanbau und Plantagen zu fördern, gab es von der Europäischen Gemeinschaft bis in die 70er-Jahre Zuschüsse für die Abholzung von lange gewachsenen Bäumen mit hohem Stamm. Heute dominieren knapp zweieinhalb Meter messende Kulturbäume in engen Reihen die Anbaugebiete. „Das ist wirtschaftlicher, schließlich kann man dort nicht mehr von der Leiter fallen“, scherzt der 57-Jährige. Deutlich geringer seien Ertrag und Wirtschaftlichkeit von Streuobstwiesen: Gerade einmal acht Cent zahle eine Mosterei pro Kilo Streuobst. „Ich brauche 36 Cent, damit sich das rechnet“, sagt Geng. So hängen zwar nach diesem Rekordjahr die Bäume voll – im Vergleich zu 2017 hat sich die Ernte von 596.700 auf 1,1 Millionen Tonnen fast verdoppelt –, die Preise im Handel seien aber so niedrig, dass sich das Ernten kaum lohne. Der Landwirt setzt daher ausschließlich auf den Direktvertrieb und mostet sogar selbst.

Martin Geng erntet seine Äpfel noch mit der Leiter.

So stehen auch heute noch östlich der Staufener Burg seine 70 Jahre alten Apfelbäume mit Kronen von zehn Metern Durchmesser. „Je tiefer die Wurzeln sind, desto mehr Nährstoffe kann der Baum aus dem Boden lösen.“ Bis zu 300 Aromen kann ein Apfel so ausbilden. „Außerdem werden großkronige Bäume weniger von Pilzen befallen“, sagt Geng, der komplett auf Pestizide und alle Arten von Spritzmitteln verzichtet.

Weiter östlich am Bodensee werden Apfelkulturen bis zu 30 Mal einer Behandlung unterzogen. „Auch Bio-Äpfel sind gespritzt. Zwar mit natürlichen Stoffen, aber dem Regenwurm ist es egal, wovon er die Grätsche macht.“ Gegen Schädlinge hat Geng auf seinen Wiesen zahlreiche Vogelkästen aufgebaut: „Die Vögel sind unsere wichtigsten Mitarbeiter.“ Darüber hinaus gibt es auf dem Gelände der Familie Geng Büsche, kleine Teiche und Steinhaufen. Tiere finden dort Nahrung und Unterschlupf. „Wir haben uns gedacht, es muss eine Möglichkeit geben, Obst zu produzieren, ohne zu spritzen.“ Bis zu 5000 Tiere und Pflanzenarten finde man in Streuobstwiesen.

„Das Gesunde wurde herausgezüchtet“

„Heutzutage gehen viele Züchtungen in Richtung süß und haltbar“, sagt der Obstexperte, „der Markt verlangt danach.“ Tatsächlich werden neue, gezüchtete Sorten nach ihrem Anschnitt langsamer braun als ihre alten, naturbelassenen Vorfahren. „Mit dem Braun hat man aber auch das Gesunde herausgezüchtet“, erklärt der Sortenkundler. Bei der Veränderung des Apfels sind wertvolle Polyphenole auf der Strecke geblieben, die menschliche Zellen vor Krebserkrankungen schützen können. Die Kulturbäume treiben noch mehr Auswüchse und schlagen immer mehr Menschen auf den Magen: „Mittlerweile gibt es vier Millionen Apfel-Allergiker.“

Auch der Sortenkundler ist auf gewisse Weise experimentierfreudig: „Ich habe einen Apfel auf meiner Wiese, den Schädlinge meiden, vielleicht kann ich das nutzen.“ Spätestens seit der Verleihung der Eduard-Lucas-Medaille diesen Oktober – für das Engagement zur Erhaltung alter Obstsorten – sind die Äpfel von den Streuobstwiesen der Familie Geng in aller Munde. „Die Leute kommen aus Basel und Karlsruhe“, sagt Geng in Staufen. Auch aus dem größten Apfelanbaugebiet im Süden – der Bodenseeregion – reisen Kunden zu seinen wilden Wiesen.

Fotos: © Obstparadies Staufen