„Es ist ein Marathon“: Freiburg wird bis 2035 nicht klimaneutral Gesellschaft | 05.09.2020 | Till Neumann

Die Stadt will bis 2050 – saldiert – emissionsfrei sein. Vielen Umweltaktivisten reicht das nicht. Die Stadtverwaltung hat daher prüfen lassen, ob Freiburg schon 2035 klimaneutral sein könnte. Das Gutachten hat’s in sich: Dramatische Einschnitte wären nötig. Die Freiburger Umweltbürgermeisterin Gerda Stuchlik setzt daher auf 2050. Sie sieht Freiburg gut aufgestellt, räumt aber auch ein Versäumnis ein.

Gutachten schreckt auf

Die Zahlen sind explosiv: Der motorisierte Individualverkehr in Freiburg müsste um 60 Prozent sinken. Der Photovoltaik-Ausbau um das Sechsfache steigen. Die Industrie muss den Energieverbrauch mehr als halbieren. Solche Punkte stehen im Gutachten zur Frage: Wie kann Freiburg schon 2035 klimaneutral werden? Erstellt haben es das Öko-Institut und das ifeu-Büro – im Auftrag der Freiburger Stadtverwaltung.

Das Gutachten schreckt auf. Möglicherweise macht sich im Rathaus aber insgeheim auch Erleichterung breit. Schließlich bestätigt es den Kurs, erst 2050 klimaneutral zu sein. „Es ist einfach deutlich geworden, dass wir 2035 nicht schaffen“, sagt Stuchlik. Die 62-Jährige ist seit 1997 im Amt. Umweltschutz nennt die überzeugte Fahrradfahrerin ein Herzensthema: „Das ist eine meiner Leidenschaften.“ Sie lebt ohne Auto, nutzt wenn überhaupt Carsharing oder einen Dienstwagen.

Stuchlik forderte breitere Radwege

Gerda Stuchlik

Umweltbürgermeisterin: Gerda Stuchlik

Für Stuchlik ist klar: Freiburg ist Vorreiter. Das erste Klimaschutzkonzept ist 1996 auf den Weg gebracht worden. Immer wieder überprüfe man, wo man stehe und korrigiere nach. „Wir haben pro Kopf fast 40 Prozent CO2-Einsparung seit 1992“, betont sie. Das finde man sonst fast nirgendwo. Das Bundesumweltamt hat für Deutschland eine Reduzierung von 31,4 Prozent seit 1990 gemessen.

Erst 2019 hat der Gemeinderat die Ziele verschärft: Statt um 50 Prozent sollen bis 2030 die Emissionen um 60 Prozent reduziert werden. Jede größere Maßnahme müsse ­klimaneutral geplant werden, so Stuchlik. Das sei bereits der Fall für den geplanten Stadtteil Dietenbach, das neue SC-Stadion oder das Rathaus im Stühlinger. Es gilt als europaweit größtes öffentliches Netto-Nullenergiegebäude.

Trotz der Vorreiterrolle: Freiburg erlebt Zeiten des Klimaprotestes. Fridays for Future, Extinction Rebellion, Fahrraddemos … Stuchlik findet die Forderungen der Jugend „vollkommen berechtigt“. Den Fuß- und Radentscheid begrüßt sie: „Was mir fehlt, sind Radautobahnen – auch in der Stadt. Es muss breiter werden.“ Das ist aber auch der einzige Bereich, in dem sie in den vergangenen Jahren Versäumnisse der Verwaltung sieht: „Ich glaube, im Verkehr hätte man ein bisschen mehr machen können.“

Versäumnisse im Verkehr?

Stuchlik verweist auf Rahmenbedingungen von Bund, Land und EU. Mit diesen seien Grenzen gesetzt. Sie wünscht sich unter anderem einen „CO2-Preis, der auch die Rede wert ist“. In der Tat sind Kommunen beim Klimaschutz abhängig von überregionalen Entscheidungen. Das ist auch bei Aktivisten unumstritten.

Einer davon ist Thomas Bauer von der Ortsgruppe des BUND Freiburg. Sechs Handlungsfelder hat die Stadt im Klimaschutzplan definiert. „In allen Bereichen gibt es Nachholbedarf“, sagt der 48-Jährige. Knackpunkte sind für ihn die energetische Gebäudesanierung oder auch der Verkehr. „Die CO2-Emissionen steigen seit 2010 stetig an“, betont Bauer. Es gebe immer mehr Autos in Freiburg. „Wir können es nur schaffen, wenn wir unsere Prioritäten neu ordnen.“

Wunsch nach Citymaut

Anna Castro

Umweltaktivistin: Anna Castro Kösel

Auch Anna Castro Kösel findet die Stadtverwaltung zu vorsichtig: „In Sachen Verkehr hat Freiburg riesigen Nachholbedarf.“ Die Freiburger Fridays-For-Future-Aktivistin fordert eine Citymaut, ein überregionales Pendlerkonzept und mehr Fahrradstraßen in der Innenstadt. Der Schlossbergring, die Rempartstraße oder die Wallstraße seien „sehr schlecht konzipiert“. „Man muss den Autos Raum wegnehmen“, sagt die 20-Jährige. Ein Vorhaben, das der Fuß- und Radentscheid mit zwei Bürgerentscheiden unterstützen möchte. Einen für ganz Freiburg, einen für die Innenstadt. Die Macher sammeln derzeit Unterschriften. Die Zahl der Klimaproteste und -projekte nimmt zu. Der Wind wird rauer im Breisgau.

Auch Tanja Kenkmann vom Öko-Institut appelliert ans Rathaus, im Verkehr mutiger zu sein. Sie schlägt Popup-Radwege vor, die nicht nur kurzfristig bestehen. „Ich glaube schon, dass die Bevölkerung bereit ist, etwas umzustellen“, so die 49-Jährige. Impulse seien wichtig. Kenkmann hat am Gutachten zur Klimaneutralität 2035 mitgearbeitet. Sie sagt: Um die Ziele zu erreichen, braucht es „viel stärkeres Engagement der Bevölkerung“.

Kaum mehr Low Hanging Fruits

Einfache Lösungen gebe es für die Kommune kaum mehr: „Die Low Hanging Fruits sind schwer zu finden.“ Vieles sei auf dem Weg. Die Bürger sind daher gefragt: „Verhaltensänderungen haben Riesenpotenziale“, sagt Kenkmann. Über Nacht könne man das umsetzen: weniger Auto fahren, weniger Strom verbrauchen, kürzer duschen.

Energie-Experte: Klaus Preiser

Auch die Badenova setzt auf Klimaschutz: „Wir denken Energiewende in Regionen“, sagt Klaus Preiser, Geschäftsführer der Badenova-Tochter WärmePlus. Weder bei Lebensmitteln noch bei Arbeitskräften sei eine Kommune autark. Also müsse man das über Stadtgrenzen hinweg anpacken. Für den 58-Jährigen sind die kommunalen Hebel alles andere als klein.

Stadtstrommodell soll kommen

Der Energieverbrauch müsse um die Hälfte runter, sagt Preiser. Im Bereich Gebäudesanierung mache Freiburg schon viel, müsse aber noch besser werden. Für die Energiewende setzt er auf Windkraft, Photovoltaik, Geothermie oder auch ein Stadtstrommodell. Es soll Privatbesitzern von Photovoltaikanlagen finanziell unter die Arme greifen, wenn die Zuschüsse des Erneuerbaren-Energie-Gesetzes (EEG) ab 2021 auslaufen. Gespräche dazu laufen mit dem Rathaus bereits.

„2050 halte ich für realistisch und erreichbar“, sagt Preiser. Das unterstreicht auch Stuchlik. 2035 sei mit Blick auf das Gutachten unmöglich. Sie ist aber fest überzeugt, dass es Freiburg bis 2050 hinbekommt. Die Umweltbürgermeisterin ist noch bis Frühjahr 2021 im Amt. Bis dahin will sie vor allem bei der Gebäudesanierung noch was bewegen. Was genau sie in der Schublade hat, verrät die Bürgermeisterin nicht.

Stuchlik hofft, dass durch wachsenden Druck mehr Bewegung reinkommt. Nach 23 Jahren im Amt kann sie sagen: „Klimaschutz ist ein Marathon.“ Trotz vieler Bemühungen geht’s langsam voran. Von den 42,195 Kilometern sind die meisten längst noch nicht geschafft.

Fakten zum Freiburger Klima

  • Bis 2030 sollen die Treibhausgasemissionen in Freiburg um 60 Prozent sinken.
  • Die Stadt soll bis 2050 klimaneutral sein.
  • 20 Prozent der städtischen Emissionen verursacht der Verkehr.
  • Fast 80 Prozent der Wege legen Freiburger mit Bus, Bahn, Rad oder zu Fuß zurück.
  • Die Zahl der Autos steigt dennoch.
  • Die CO2-Emissionen pro Kopf sind in Freiburg seit 1992 um 37,2 Prozent gesunken.

Freiburg will bis 2050 klimaneutral werden – reicht das?

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