Geschwisterkinder: Lebenslängliche Liebe oder Rivalität Gesellschaft | 30.05.2021 | Arwen Stock

zwei Geschwister auf einem Skateboard

Während die Eltern in der Regel früher gehen und Partner und Kinder später hinzukommen, begleiten einen Geschwister oft ein Leben lang. Welche Bedeutung das für die Biografie eines Menschen hat, darüber hat findefuchs-Autorin Arwen Stock mit dem bekannten Psychologen und Ratgeber-Autor Wolfgang Krüger gesprochen.

findefuchs: Das Spektrum reicht von ewiger Rivalität bis hin zu tiefster Zuneigung – welche Rolle spielt die Geschwisterbeziehung für die Biografie eines Menschen?
Wolfgang Krüger: Eine große, entscheidende Rolle. Wir wissen, dass 50 Prozent aller Jugendlichen unter 17 Jahren ein Geschwister haben. Weitere 25 Prozent haben sogar zwei Geschwis­ter. Und nur 25 Prozent wachsen als Einzelkinder auf. Geschwister zu haben, das bedeutet, dass wir lebenslänglich jemanden haben, der uns wichtig ist und mit dem wir Konflikte haben. Alles, was wir später in der Partnerschaft brauchen, lernen wir in der Geschwisterbeziehung. 

findefuchs: Heißt das, die Kindheit mit Geschwistern trainiert fürs Leben?
Wolfgang Krüger: Ja, absolut. Das Zusammenleben von Geschwistern ist ein unendliches Übungsfeld. Es geht darum, sich abzugrenzen, zu teilen, zu streiten, sich zu einigen. 

findefuchs: Sind Einzelkinder im Nachteil?
Wolfgang Krüger: Dieses Training fehlt Einzelkindern. Untersuchungen zeigen, dass Geschwis­terkinder gesünder sind und eine höhere soziale Kompetenz haben. Doch heute weiß man auch: Es muss keine so großen Unterschiede zwischen Einzelkindern und Geschwisterkindern geben. Soziales Verhalten kann man auch als einzelnes Kind mit Freundeskindern lernen. 

findefuchs: Welche Rolle spielt es, ob man als ältestes oder jüngstes Geschwisterkind geboren wurde?
Wolfgang Krüger: Seit den 1920er-Jahren gibt es dazu die Typologie von Alfred Adler. Das älteste Kind ist eher etwas vernünftiger und muss Verantwortung übernehmen. Der Hintergrund ist, dass es das ältere Kind erlebt hat, entthront zu werden durch das jüngere Geschwisterkind. Laut Adler ist es das ­größte Trauma für das Erstgeborene. Es muss die Zuwendung der Eltern nun teilen. Doch es lernt auch, auf Zuneigung zu verzichten und wendet sich sachlichen Zielen im Leben und dem Leistungsbereich zu.

findefuchs: Was ist mit den jüngeren Kindern?
Wolfgang Krüger: Das Jüngste orientiert sich logischerweise immer am Älteren oder mehreren älteren Geschwistern, lernt dadurch schnell und startet gerne auch mal durch.  Mittlere Kinder werden auch Sandwichkinder genannt. Sie übernehmen oft die Mittlerrolle, gehen aber auch leichter unter. 

findefuchs: Welche Rolle spielt heute das Geschlecht der Geschwister?
Wolfgang Krüger: Eine entscheidende. Zwei Schwestern haben völlig andere Biografien miteinander als zwei Brüder. Sie tauschen beispielswiese Poesiealben aus und sind viel gefühlsbetonter. Zwei Jungen dagegen rangeln und sind körperbetonter. 

findefuchs: Was ist mit dem Klassiker: erst Junge, dann Mädchen?
Wolfgang Krüger: In dieser Geschwisterkons­tellation übernimmt der ältere Bruder die klassische Beschützerrolle der kleinen Schwes­ter. Das ist lebenslang prägend. Umgekehrt kommt eine älteste Schwester eher in die Rolle der Pädagogin, des verlängerten Arms der Eltern, die auch Hausarbeit übernimmt. 

findefuchs: Wie wirkt sich der Altersunterschied der Geschwister aus?
Wolfgang Krüger: Der ist entscheidend. Bei einem „Generationensprung“ von sechs bis sieben Jahren wird der Abstand zu groß. Wenn ein Kind sieben Jahre alt ist und das andere 16, dann gibt es da kaum noch Schnittmengen. Das ältere Kind übernimmt auch kaum noch die Geschwisterrolle, sondern viel mehr von der Elternfunktion. Mädchen gehen dann fast schon in eine Mutterrolle hinein. Die Rolle, die die Älteren dann haben, ist durchaus durch­wachsen, denn zu den lästigen Aufgaben kommt auch noch die späte Entthronung.

findefuchs: Kommt dann Eifersucht ins Spiel?
Wolfgang Krüger: Die Bibel ist voll von Eifersuchtskonflikten unter Geschwistern, bis hin zu Mord und Totschlag, und zwar mit allen Altersabständen. Das ist heute weniger der Fall, denn Eltern achten sehr darauf, bei einem Neugeborenen das ältere Kind miteinzubeziehen und Extras mit ihm zu machen. Da haben Eltern glücklicherweise heute viel Verständnis. 

findefuchs: Haben diese als Geschwisterkind eingeübten Rollen Einfluss auf spätere Partner­schaften?
Wolfgang Krüger: Ja, das sehen wir bei der Paartherapie. Eine Partnerschaft läuft dann gut, wenn beispielsweise ein älterer mit einem jüngeren Geschwisterpartner zusammenkommt. Zwei älteste Geschwisterkinder, das ist eher schwierig. Zwei Sandwichkinder-Partner wiederum passen gut zusammen, da beide anpassungsfähig sind. Auch eine Beziehung zwischen einem Sandwichkind und einem älteren oder jüngeren Geschwisterkind kann gut gelingen. Zwei Jüngste harmonieren in den meisten Fällen nicht so gut, genauso wie zwei Einzelkinder. Generell kann man sagen: Wenn die Geschwis­terbeziehung gut gelaufen ist, wiederholen sich die Strukturen oft in der Partnerschaft. 

Es geht immer um Gerechtigkeit

findefuchs: Und wenn es schlecht gelaufen ist?
Wolfgang Krüger: Dann kommt es darauf an, ob jemand aktiv wird und es anders machen will. Aber in den meisten Fällen schauen die Menschen, dass sie in den Kreisen bleiben, die bekannt sind. 

findefuchs: Wie prägt ein krankes Geschwis­terkind diese Beziehung? 
Wolfgang Krüger: Die Krankheit eines Kindes zieht die ganze Aufmerksamkeit in einer Familie auf sich. Manche Geschwister werden dadurch zu wenig bemuttert und entwickeln eine Zwangs- oder Notautonomie. Bei diesen Erwachsenen ist das Bedürfnis nach einer Liebesbeziehung oft weniger stark ausgeprägt, viele bleiben Single oder man begnügt sich in einer Partnerschaft mit viel Distanz, beispielsweise in einer Fernbeziehung. 

findefuchs: Prägt uns die Geschwisterbeziehung auch für den Beruf?
Wolfgang Krüger: Ja. Studien haben ergeben: Auf der Führungsebene sind erste Kinder überproportional stark vertreten. Vor der Studentenbewegung gab es noch die klassischen Rollenmuster: Der älteste Junge musste die Familientradition fortsetzen, und es gab große Unterschiede zwischen Frauen- oder Männerbiografien. Das hat sich etwas aufgeweicht, wobei die Muster schon noch da sind. 

findefuchs: Welche Fehler können Eltern bei der Geschwistererziehung vermeiden?
Wolfgang Krüger: Für Geschwister geht es immer um das Thema Gerechtigkeit und das Gefühl gleicher Zuneigung und Wertschätzung. Ein furchtbarer Fehler ist es, die Kinder zu vergleichen oder einem Lieblingskind Vorrechte einzuräumen. Wenn Kinder eifersüchtig sind, werden sie bockig, steigen sie aus dem Familienprozess aus und das ganze Familienleben leidet. 

findefuchs: Was können Eltern für deren Gelingen tun? 
Wolfgang Krüger: Neben Gerechtigkeit und gleicher Wertschätzung ist mein grundlegender Tipp: Wichtig ist, erst mal mit sich selbst im Reinen zu sein und möglichst eine eigene, glückliche Liebesbeziehung und gute Freundschaften zu haben. Denn für Humor und Gelassenheit in der Erziehung braucht es innere Stärke. Wenn man dann noch seine eigene Familiengeschichte reflektiert, hat man schon einen guten Masterplan.

Zur Person:

Wolfgang KrügerDer promovierte Psychologe Wolfgang Krüger wurde 1948 in Berlin geboren. Nach der mittleren Reife, einer Ausbildung zum Industriekaufmann und einem Betriebswirtschaftsstudium absolvierte er das Psychologie-Diplom und die Dissertation an der Freien Universität Berlin. Als Tiefenpsychologe mit eigener Praxis in Berlin liegt der Schwerpunkt seiner Arbeit in der Überwindung von Ängsten und Depressionen sowie der Aufarbeitung von Beziehungsproblemen. Krüger ist Autor zahlreicher Bücher sowie von Vorträgen, aus Rundfunksendungen und durch die Zusammenarbeit mit Jesper Juul bekannt.
Er ist der Überzeugung, dass trotz aller Probleme „die Liebe möglich ist“.

 

Fotos: © iStock.com/AleksandarNakic; Gerald Wesolowski