Devisen für Nazis: Wie die moderne Kunst nach Basel kam Kunst & Kultur | 10.01.2023 | Erika Weisser

„Der tolle Platz“ von Felix Nussbaum „Der tolle Platz“ von Felix Nussbaum ist eine Leihgabe der Berlinischen Galerie.

Die Ausstellung „Zerrissene Moderne“ zeigt Kunst, die 1937 von den Nazis als „entartet“ diffamiert und beschlagnahmt wurde. Im Zentrum stehen die 21 Werke, die der damalige Direktor Georg Schmidt 1939 erwarb – als Grundstock für die moderne Sammlung.

Ernst Barlachs Friedensengel

Ernst Barlachs Friedensengel

Ein ziemlich massiver, sehr irdisch wirkender Friedensengel schwebt über den Exponaten in Raum 9, dem letzten Saal der Ausstellung. Doch er versöhnt nicht mit der sehr zwiespältigen Geschichte, die in den gerade durchquerten Räumen sichtbar, ja greifbar wurde. Eine Geschichte, die auch in der 1927 von Ernst Barlach geschaffenen Gestalt manifest wird: Der Kopf, der die Gesichtszüge von Barlachs Bildhauerfreundin und Kriegsgegnerin Käthe Kollwitz zeigt, ist alles, was von dem in Bronze gegossenen Friedensdenkmal für alle Toten des Ersten Weltkriegs im Güstrower Dom übrig blieb: Alles andere wurde im Rahmen einer „Materialspende des deutschen Volkes an den Führer“ eingeschmolzen. Zur Waffenherstellung im bevorstehenden Krieg.

Den Kopf betrachteten die „Kulturbeauftragten“ der damaligen Machthaber hingegen als anderweitig verwertbar, will heißen: auf dem internationalen Kunstmarkt devisenbringend zu veräußern. Die verfemten Barlach und Kollwitz waren schließlich schon damals international bekannte Künstler von hohem Ansehen. Und Devisen benötigte Nazideutschland zur Vorbereitung des längst geplanten zweiten Weltenbrands. Die Skulptur – oder besser das Fragment eines Gesamtkunstwerks – gelangte 1938, nach der hetzerischen, in mehreren deutschen Städten gezeigten Ausstellung „Entartete Kunst“ in den im Schloss Schönhausen in Berlin untergebrachten Fundus, den man zu monetarisieren gedachte. Der Großteil der insgesamt etwa 20.000 beschlagnahmten Werke wurde zerstört, verbrannt – oder auch unterschlagen. Viele Arbeiten gelten bis heute als verschollen.

Dass die Friedensfigur überhaupt über den Bildern von Franz Marc, Jankel Adler, Felix Nussbaum und Marg Moll schweben kann, ist Ernst Barlachs Künstlerfreund Bernhard Böhmer zu verdanken, der zu den mit der „Verwertung entarteter Kunst“ beauftragten Kunsthändlern gehörte. Er  hat das Original-Gipsmodell vor der Zerstörung bewahrt und ließ daraus 1939 heimlich einen Zweitguss anfertigen. Die Figur befindet sich heute im Landesmuseum Schleswig-Holstein, das sie für die Basler Ausstellung als Leihgabe zur Verfügung stellte. Der zugehörige Kopf, der als Einzelstück an einer Wand präsentiert wird, wurde 1939 für das Kunstmuseum angekauft – mit einem Sonderkredit des Regierungsrats der Stadt Basel.

Museumsdirektor Georg Schmidt

Museumsdirektor Georg Schmidt

Grundstock für die Sammlung

Insgesamt standen Georg Schmidt, dem damaligen Direktor des 1936 eröffneten und im Bereich der Moderne äußerst dürftig bestückten Kunstmuseums 50.000 Franken zur Verfügung. Das entspricht nach heutigen Maßstäben etwa 1,5 Millionen. Das war für die Verkäufer der zwangsweise aus deutschen Museen entfernten und den Künstlern per Dekret enteigneten Kunst eine Menge Geld. Angesichts des Marktwerts, den einige der erworbenen Werke schon zu jener Zeit hatten, wird aber auch deutlich, dass es sich bei den 21 vorwiegend über den Kunsthändler Hildebrand Gurlitt abgewickelten Ankäufen um wahre Schnäppchen handelte.

Unter den so geretteten Kunstwerken waren Oskar Kokoschkas farb- und ausdrucksstarkes Gemälde „Die Windsbraut“, Marc Chagalls Bild „La Prise“, das einen Rabbiner zeigt, der eine Prise Schnupftabak zu sich nimmt. Darunter war auch das apokalyptische, als eine der Ikonen des Expressionismus angesehene Werk „Tierschicksale“ von Franz Marc, das als einziges Bild in Raum 5 hängt, in dem sich die von Eva Reifert kuratierte Ausstellung mit den bis heute anhaltenden Kontroversen um die Ankäufe auseinandersetzt. Des Weiteren gehörten Lovis Corinths „Ecce Homo“ sowie einige Werke von Max Beckmann, Otto Dix, Paula Modersohn-Becker, Paul Klee und George Grosz dazu. Sie sind fundamentaler Bestandteil der bis heute einzigartigen und weltberühmten Sammlung der klassischen Moderne des Basler Kunstmuseums, deren Grundstock damals gelegt wurde.

Marc Chagalls „La Prise“

Marc Chagalls „La Prise“

Dass sich das Museum nun mit dieser Geschichte auseinandersetzt, ist lobenswert. Und ebenso begrüßenswert ist es, dass dieser Grundstock zusammen mit anderen geretteten Werken aus anderen Museen gezeigt wird – das ermöglicht einen erhellenden Einblick in eine finstere Epoche – nicht nur für die Kunst.

INFO

Zerrissene Moderne
Die Basler Ankäufe
„entarteter“ Kunst
Bis 19. Februar,
Di.–So.: 10–18 Uhr
Kunstmuseum Basel/Neubau
www.kunstmuseumbasel.ch

Fotos: © Kunstmuseum Basel; Felix Nussbaum Der tolle Platz, 1931, © Berlinische Galerie, Foto: Kai-Annett Becker/Berlinische Galerie; Marc Chagall Die Prise (Rabbiner), 1923-1926, Kunstmuseum Basel © 2022 ProLitteris, Zürich, Foto: Martin P. Bühler; Erika Weisser