Mundart hat eine Zukunft: Interview mit Hans-Peter Schifferle Land & Leute | 29.01.2021 | Arwen Stock

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Wie steht es in Zeiten der Globalisierung um Dialekt oder Mundart im Dreiländereck? Arwen Stock hat mit dem Mundart-Experten Hans-Peter Schifferle gesprochen, der sich seit Jahrzehnten diesem Forschungsgebiet widmet.

Lust auf REGIO: Wie viele Dialekte gibt es im Dreiländereck?

Hans-Albert Schifferle: Das ist schwer: Man könnte sagen, es gibt einen Dialekt. Genauso richtig ist aber, es gibt drei. Und ebenso richtig ist, dass es zwischen Freiburg, Colmar und der Nordwestschweiz 50 unterschiedliche Mundarten gibt.

Lust auf REGIO: Warum?

Hans-Albert Schifferle: Im Dreiländereck gibt es eine Mundart, denn der hochalemannische Dialekt im Sundgau, im Baselbiet, im Landkreis Lörrach und im Breisgau ist sehr, sehr ähnlich. Dort sagt man beispielsweise Chind oder Chenn für Kind und Hüüs oder Huus für Haus. Ausnahme ist die Stadt Basel, wo niederalemannisch gesprochen wird.

Lust auf REGIO: Und wieso gibt es auch drei Dialekte?

Hans-Albert Schifferle: Man kann seit über 100 Jahren jemanden am Sprechen sofort als Elsässer, als Badener oder als Schweizer erkennen. Das liegt vor allem an der Dialekt-Intonation. Die hat sich sehr unterschiedlich entwickelt in den jeweiligen Ländern, beeinflusst durch die unterschiedlichen Dachsprachen Französisch, die deutsche Standardsprache und das Schweizerhochdeutsch.

Lust auf REGIO: Können Sie das konkretisieren?

Hans-Albert Schifferle: In der Schweiz ist der Dialekt unsere Alltagssprache und als solche offen für Neuerungen wie beispielsweise Anglizismen. In Social Media verwenden die meisten jungen Schweizer ihren Dialekt auch in schriftlicher Form. Dagegen wird im Elsass der Dialekt meist nur noch von älteren Leuten zu Hause und im Dorf gesprochen. Weil man dort in der Öffentlichkeit immer Französisch spricht, konnte der Dialekt seine Strukturen viel besser bewahren als in Baden oder in der Nordwestschweiz. Man könnte sagen, dass er wie versteinert ist.

Sprachwissenschaftler Hans Peter Schifferle

Dialekte überwinden Grenzen: Das beobachtet der Sprachwissenschaftler und Wörterbuchmacher Hans-Peter Schifferle.

Lust auf REGIO: Und wie ist es im Badischen?

Hans-Albert Schifferle: Die Forschung identifiziert beim badischen Alemannisch vier beziehungsweise sogar fünf verschiedene Abstandsstufen zwischen dem breitesten Dialekt und der Standardsprache. Dieses Phänomen der unterschiedlichen Dialektniveaus gibt es im Dreiländereck nur in Deutschland.

Lust auf REGIO: Wie viele Menschen sprechen noch Mundart?

Hans-Albert Schifferle: Eine Studie zeigte 2012 für das Elsass, dass 43 Prozent der Bevölkerung noch Elsässisch verstehen. Aktiv sprechen tun dies heute sicher deutlich weniger. Für Südbaden kenne ich keine Zahlen. In der Nordwestschweiz spricht hingegen nahezu die ganze Bevölkerung den Dialekt als alltägliche Umgangssprache. 

Lust auf REGIO: Welche Bedeutung hat Dialekt?

Hans-Albert Schifferle: Dialekt ist etwas spezifisch Lokales, kann Identität schaffen und Identifizierung leicht machen. Ich ziehe manchmal den gleichbedeutenden Begriff „Mundart“ vor, weil der die primäre Mündlichkeit des Dialekts direkt benennt.

Lust auf REGIO: Woher kommt eigentlich das Alemannische?

Hans-Albert Schifferle: Die Sprache ist benannt nach dem Volksstamm der Alemannen, der sich im Dreiländereck vor ungefähr 1500 Jahren angesiedelt hat. Diese Sprachtradition ist seither ungebrochen.

Lust auf REGIO: Wie beeinflussen Europäisierung und Globalisierung die Mundart im Dreiländereck?

Hans-Albert Schifferle: Die Europäisierung der Region in den letzten 50 Jahren hat viel dazu beigetragen, dass die Kontakte über die Landesgrenzen hinweg zugenommen haben. Der selbstverständlichere kleinregionale Austausch ist vor allem am Oberrhein eine wichtige Stütze für den Dialektgebrauch geworden. Im Zuge der Globalisierung gibt es „vermundartlichte“ Entlehnungen aus allen möglichen Sprachen – beispielsweise sagt man in der Nordwestschweiz snööbe (Snowboard fahren), tschätte (chatten) oder essemmessle (SMS schreiben). Dank dieses offenen Dialektgebrauchs bleibt dieser lebensfähig.

Lust auf REGIO: Wieso, wäre die Mundart sonst vom Aussterben bedroht?

Hans-Albert Schifferle: Ich glaube sehr an die Überlebenskraft des Dialekts: Die Mundart im Dreiländereck hat eine gute Zukunft. Mein Eindruck ist sogar, dass die grenzübergreifende einheitliche Dialektkommunikation zunimmt. In Saint-Louis auf dem samstäglichen Wochenmarkt verständigen sich elsässische Bauern und Händler, Schweizer und Badener Kunden alle ganz ungezwungen im je eigenen Dialekt. Das ist doch auch ein optimistisches Zeichen von Frieden.

 

Zur Person

Hans-Peter Schifferle, 1954 in Döttingen im Aargau geboren und aufgewachsen, studierte nach der Matura an der Universität Zürich Germanistik, italienische Literatur und Volkskunde. Noch während seiner Dissertation zum Mundartwandel an der Landesgrenze zwischen Deutschland und der Schweiz wurde er Redakteur für das Schweizerdeutsche Wörterbuch. Von 2005 bis zu seiner Pensionierung 2019 war er dessen Chefredakteur. Neben seinen Lehr- und Publikationstätigkeiten war Schifferle viele Jahre Mitglied der leitenden Kommission des Phonogrammarchivs der Universität Zürich.

Fotos: © iStock/daboost, Franca Siegfried