Vom Schrankschlepper zum Gewerkschaftschef – Reiner Geis geht in Ruhestand business im Breisgau | 23.05.2025 | David Pister

Ein Leben für die Gewerkschaft: Der gelernte Finanzbeamte Reiner Geis war schon für die Verdi-Vorgängerorganisation tätig. Nach 25 Jahren als Verdi-Geschäftsführer geht Geis Ende Juli in den Ruhestand. Ein Rückblick was war, und ein Ausblick, was für den 63-Jährigen jetzt kommt.
Finanzamt Würzburg. Reiner Geis, Noch-Geschäftsführer des Verdi-Bezirks Südbaden Schwarzwald, war vor einigen Jahrzehnten Auszubildender dort. „Eigentlich sollten wir Steuerrecht lernen. Aber zu meiner Zeit wurden die männlichen Auszubildenden dazu missbraucht, im Amt Schränke zu tragen“, erzählt der 63-Jährige.
Anfangs sei das nicht schlimm gewesen. Etwas Abwechslung. „Später hatten wir dann doch Bedenken, ob wir die Abschlussprüfung schaffen würden. Also haben wir unseren Jugendvertreter aufgesucht. Der war völlig entsetzt, dass wir ausbildungsfremde Arbeiten machen sollten.“ Mit ihm und der Gewerkschaft haben Geis und andere Azubis eine Forderung an das Finanzamt Würzburg gestellt: Falls sie die Prüfung nicht schaffen sollten, müsse der Arbeitgeber Schadensersatz zahlen. Da regte sich etwas: Alle Steuerkoryphäen aus Bayern seien nach Würzburg gekommen, damit gepaukt werden konnte. Und siehe da: Alle haben bestanden. „Mir hat das gezeigt, was man im Kollektiv erreichen kann, wenn man sich einig ist. Diese Erfahrung hat mich zur Gewerkschaft gebracht“, sagt Geis.
Viel verändert in 35 Jahren Gewerkschaft
Reiner Geis wurde Personalratsvorsitzender im Finanzamt, entschied sich dann aber für eine Laufbahn bei der Verdi-Vorgängerorganisation ÖTV. Nach seiner Ausbildung dort arbeite Geis zuerst als Gewerkschaftssekretär und dann als Pressesprecher. 1999 wurde er zum ÖTV-Geschäftsführer in Freiburg gewählt. Zwei Jahre später, als Verdi gegründet wurde, wurde Geis unter vielen Mitbewerbern als Jüngster zum Geschäftsführer des Verdi-Bezirks gewählt. Bei der Fusion der Bezirke Südbaden und Schwarzwald wurde Geis als Geschäftsführer bestätigt und war lange Jahre im Amt. Ende Juli geht er in den Ruhestand.
„Nach 46 Beschäftigungsjahren darf etwas Neues beginnen. Ich möchte gesund in einen neuen Lebensabschnitt gehen“, sagt Geis. Außerdem würden Anfang nächsten Jahres die Weichen gestellt für die Neuwahlen des Vorstands. „Es macht Sinn, dass der neue Geschäftsführer im Amt ist, wenn der neue Vorstand neugewählt wird.“ Und: Nach 26 Jahren Geschäftsführung sei der Akku nicht mehr ganz so voll. „Ich bin froh, Verantwortung abzugeben. Als Geschäftsführer bin ich jahrzehntelang der örtliche Streikführer. Es vergeht keine Woche, wo wir nicht für Verbesserung streiken. Das kostet viel Energie, weil ich über das berufliche Schicksal meiner Mitglieder mitentscheide.“
34.000 Mitglieder zählt der Bezirk Südbaden Schwarzwald und erstreckt sich von der Ortenau über den Schwarzwald bis zum Bodensee. Der größte Arbeitgeber in der Region ist die Uni-Klinik in Freiburg. Verdi vertritt außerdem Mitglieder an den Wissenschaftsstandorten in Freiburg und Konstanz, bei wachsenden Medienunternehmen und Onlineversandhändlern und zahlreichen Logistikunternehmen. Die regionale Arbeit, Auge in Auge mit den Menschen zu sein, schätzt Geis am meisten. „Das ist in der politischen Arbeit das Wichtigste. Dieser direkte Kontakt, das Feedback. Und zwar nicht nur Lob, sondern auch Tadel oder Kritik.“
In seiner verbleibenden Zeit müssen noch einige Tarifabschlüsse umgesetzt werden. Das letzte größere Projekt: Mangel und Bedarf von Arbeitskräften. „Wir haben momentan eine Gleichzeitigkeit. In der Industrie werden Arbeitsplätze massiv abgebaut, während im öffentlichen Dienst eine halbe Million Stellen nicht besetzt werden können. Das reicht von der Fachkraft bis zur Angelerntentätigkeit. Wir müssen schauen, wie wir diese Transformation schaffen“, sagt Geis.

In Action: Reiner Geis beim Warnstreik 2013
In 35 Jahren Gewerkschaftsarbeit habe sich Vieles verändert. Als Geis noch als Gewerkschaftssekretär angefangen hatte, hätten Arbeitgeber und Gewerkschaftsseite noch mehr Wert auf Sozialpartnerschaft gelegt. „Verträge wurden auf Augenhöhe geschlossen, erst mit Handschlag und später mit Vertrag. Da wurde sich dran gehalten, weil jeder wusste, man begegnet sich wieder und kann es sich nicht leisten, vertragsbrüchig zu werden“, sagt Geis. Das sei schwieriger geworden. In Zeiten, in denen Geschäftsführer nach ein bis zwei Jahren ausgetauscht werden, wenn die Quartalszahlen nicht stimmen. Gewerkschaften mussten wieder für Respekt und Anerkennung für die Arbeitnehmerseite sorgen – deswegen habe auch die Häufigkeit von Streiks zugenommen.
»Das Bestmögliche für alle erringen, mit Diskurs und Disput«
Und nun? Nach Megafon und Öffentlichkeit will sich Reiner Geis kurzzeitig zurückziehen. Anfang Oktober wird der scheidende Verdi-Geschäftsführer in Klausur mit sich selbst gehen. Eine kleine Einsiedelei mit Kirche, Bauernhof und Ferienwohnung. Dort will Geis mit sich selbst beraten, wie es weitergeht. Einen Mangel an Interessen gibt es nicht. Es gehe eher darum, Struktur hereinzubringen. „Um 17 Uhr wird die selbst gewählte Klausur jeden Tag beendet sein. Keine 100 Meter Fußweg befindet sich ein Gasthaus. Da will ich dann wieder am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, bis ich mich am nächsten Tag wieder zurückziehe“, sagt Geis und lacht.
Neben Sport und Gärtnern will Geis auch in Zukunft ein politischer Mensch sein. „Ich werde weiterhin ein lauter Befürworter für eine Gesellschaft sein, die Zuwanderung braucht“, sagt Geis. Ob in der Flüchtlingshilfe, im Organisieren von Veranstaltungen oder im Beraten von Parteien und Gewerkschaften, lässt er offen.
„Mein Herzensanliegen ist, dass wir eine Gesellschaft bleiben, die offen ist für Neues, für noch Unbekanntes. Und das als Bereicherung und nicht als Bedrohung wahrnehmen.“ Eine Gesellschaft, eine Demokratie lebe nicht von extremen Meinungen. Neugierde und Respekt vor dem Anderssein sei unsere Kultur. Wohlstand erreiche man über Kompromisse. Und trotz Rechtsruck, trotz des Erstarkens autoritärer Kräfte, trotz Krisen: Geis hat Hoffnung. „Wenn ich keine Hoffnung hätte, würde ich mich vom Werben und Streiten für bessere Ideen verabschieden. Es muss auch in Zukunft darum gehen, das Bestmögliche für alle zu erringen. Das geht nur mit Diskurs, mit Disput, mit dem Streben um die beste Lösung.“
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