O Weihnachtsbaum! Adventszeit im elsässischen Sélestat Freizeit | 24.11.2019 | Hans-Jürgen Truöl

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Die hängenden Gärten der Semiramis in Babylon zählen zu den sieben Weltwundern der Antike. So berühmt sind die hängenden Weihnachtsbäume von Sélestat zwar nicht, doch sie untermauern den Ruf des Städtchens als Geburtsort des Weihnachtsbaums.

Alljährlich zur Adventszeit ziehen in der Pfarrkirche St. Georg des elsässischen Städtchens acht farbig beleuchtete Weihnachtsbäume die Blicke auf sich. Aufgehängt sind sie in den Arkaden zwischen den mächtigen Pfeilern des Hauptschiffs. Ihr Schmuck besteht ganz traditionell aus Äpfeln, Lebkuchen und bunten Glaskugeln.

Ausnahmsweise hat Sélestat, zu Deutsch Schlettstadt, sogar die Nase vor dem viel bedeutenderen Straßburg: Denn während von der elsässischen Kapitale bekannt ist, dass dort der erste Tannenbaum auf einem öffentlichen Platz aufgestellt wurde, ist in Sélestat der Brauch der Weihnachtsbäume durch ein Dokument aus dem Jahr 1521 belegt – eine vor knapp 500 Jahren für einen Förster ausgestellte Honoraranweisung.

Der geschichtliche Hintergrund dazu ist fast genauso unbekannt wie der Ursprung des Weihnachtsbaums in Sélestat: Im beginnenden 16. Jahrhundert gewannen die Protestanten nach der Reformation auch im mittleren Elsass an Boden – und die Lutheraner fanden Gefallen daran, Gestecke mit immergrünen Pflanzen an ihren Hauswänden zu befestigen. Dies missfiel den katholischen Predigern, die eine Rückkehr zu heidnischen Bräuchen befürchteten.

Weihnachtsmarkt plus Kunsthandwerker

Doch sie konnten den Trend nicht mehr aufhalten. Anfänglich hängten die wohlhabenden evangelischen Bürger eine geschmückte Tanne an die Decke ihrer Wohnstuben, später steckten sie die Weihnachtsbäume in mit Sand gefüllte Kübel. Immer mehr katholische Elsässer übernahmen diese Sitte. Aus diesen Anfängen hat sich ein weltweiter Boom entwickelt. Wer sich also in Freiburg, Basel, Sidney, New York, Buenos Aires oder Hongkong angesichts von global Hunderten Millionen Weihnachtsbäumen fragt: „Wer hat’s erfunden?“, der weiß nun die Antwort: Die Schlettstädter.

Besuchern, die an Weihnachtsmärkte im Elsass denken, fallen zweifellos zuerst die Massenspektakel in Colmar und Straßburg ein – Events von einer Größenordnung, die von jenen auf der südbadischen Rheinseite Lichtjahre entfernt sind, nicht nur der Illumination wegen. Dies gilt zusehends auch für Mulhouse. Auch die kleineren Ausgaben in Riquewihr, Ribeauvillé, Eguisheim oder Kaysersberg locken jedes Jahr zigtausende Besucher aus der REGIO an.

Weihnachten im Elsass Kirche von innen

Acht hängende Weihnachtsbäume erwarten die Besucher in der gotischen Kirche St. Georg.

Lichtergirlanden und beleuchtete Weihnachtsdekos verzieren zur Adventszeit auch Sélestat, doch der Markt gleicht nicht so sehr
einem Rummelplatz. Welch ein
Vergnügen, bei anbrechender Dunkelheit auf dem „Circuit de Noël“, dem Weihnachtsrundweg, durch die Altstadtgassen zu spazieren und zu mehreren Plätzen mit kleinen Buden zu gelangen. Auf dem Square Albert Ehms wird traditionelles Weihnachtsgebäck angeboten. Der würzige Duft von Vin chaud, wie Glühwein auf Französisch heißt, mit einem Hauch Sternanis liegt in der Luft. Elsässische Kunsthandwerker präsentieren ihre Keramik-, Holz- und Glasarbeiten. Ein kleines Kinderkarussell dreht sich.

Historischer Charme

Ausstellungen auf dem „Circuit de Noël“ informieren über Weihnachtsbräuche. Im  „Maison du Pain d’Alsace“, dem elsässischen Haus des Brotes, erfährt man alles über die traditionelle Herstellung von Spezialitäten: Gugelhupf, Brezel, (süße) Bredle, Baguette, knuspriges Bauernbrot, Brioches, Tartes salées und  Croissants werden direkt vor den Augen der Besucher gebacken – entsprechend verführerische Düfte durchziehen dieses ehemalige Zunfthaus der Bäcker von Sélestat. Museum, offene Bäckerei, Verkaufsraum und kleines Restaurant mit regionalen Leckerbissen unter einem Dach – ein Anziehungspunkt auch und besonders zur Weihnachtszeit.

Inmitten der Altstadt liegt am „Arsenal Saint-Hilaire“ ein weiterer Kunsthandwerkermarkt. Angesichts der historischen Fassaden kann man sich, abgesehen von der elektrischen Beleuchtung und den aus Lautsprechern ertönenden unvermeidlichen Weihnachtsohrwürmern, in vergangene Jahrhunderte versetzt fühlen.

Im „Jardin du Sapin“, dem Tannengarten, finden sich alle Sorten von Nadelbäumen, die als Weihnachtsbäume dienen. Die Beleuchtung sorgt für eine zauberhafte Atmosphäre.

Die Altstadt wird gekrönt von den Türmen der romanischen Kirche St. Fides und der gotischen Kirche St. Georg. Nur einen Katzensprung ist es von dort zur berühmten Humanistenbibliothek, die zum Weltkulturerbe zählt. Die ehrwürdigen Exponate unterstreichen die Bedeutung dieser ehemaligen Lateinschule während der Renaissance. Die Humanistenbewegung hatte in Sélestat im Zeitalter der Reformation ein Refugium. Wichtige überregionale Impulse gingen von hier aus.

Das Städtchen, mit Waldkirch partnerschaftlich verbunden, wirkt lebendig und nicht wie eine touristische Staffage. Die verwinkelten Straßen und Gassen der Altstadt mit ihren Fachwerkhäusern und repräsentativen Renaissancegebäuden, mit Restaurants und Bistros, Cafés und Weinstuben kommen besonders gut an Adventsabenden zur Geltung. Sélestat hat das Zeug zum Lieblingsziel im Elsass. Dank der vielen Besucher in Straßburg, Colmar, Riquewihr oder Kaysersberg kann der Weihnachtsmarkt von Sélestat seinen Charme und sein Flair behalten.

Fotos: © Ville de Sélestat, Paola Guigou