„Bitter enttäuschte Hoffnungen“: ME/CFS-Erkrankte leiden und mobilisieren STADTGEPLAUDER | 09.05.2025

Sie leiden und finden kaum Hilfe: Betroffene der Krankheit ME/CFS sind oft vom gesellschaftlichen Leben abgeschnitten. Ihr Körper hat kaum Kraft für den Alltag. Um darauf aufmerksam zu machen, gibt es am Samstag, 10. Mai, in Freiburg einen Aktionstag. Einer der Organisatoren ist Gerhard Heiner, Vorsitzender der Initiative „ME/CFS Freiburg“. Sein Sohn ist Betroffener. Im Interview mit Till Neumann erzählt Heiner von Verzweiflung, Misserfolgen und wagt einen Ausblick.
chilli: Herr Heiner, wie geht es ME/CFS-Betoffenen aktuell?
Heiner: Genauso schlecht wie letztes Jahr oder vor zehn Jahren. Wir sind viele Sitzungen, Programme, Konzepte, Ausschüsse, Anhörungen und Petitionen weiter. Jedes Mal kreißt der Berg und gebärt eine Maus. Ich erlebe eine lange Kette bitter enttäuschter Hoffnungen. Einzelne Studien ersetzen keine flächendeckende Versorgung, Betroffene suchen immer noch händeringend nach Ärzten, die ME/CFS kennen und für die 60 Prozent haus- und bettgebundenen Erkrankten gibt es immer noch keine ärztliche Betreuung durch Telemedizin oder Hausbesuche. Es gibt immer noch keine kompetenten Spezialambulanzen und kein einziges Medikament für ME/CFS. Und trotz großer Versprechungen immer noch keine Off-Lable-Liste des Bundesgesundheitsministeriums, damit Medikamente, die zwar für andere Krankheiten bestimmt sind, wenn sie helfen, auch bei ME/CFS verschrieben werden können, um wenigstens die schwersten Symptome zu lindern. Schwerstkranke vegetieren weiter in abgedunkelten und schallgeschützten Zimmern vor sich hin, 24/7 Stunden gepflegt von Angehörigen, die dafür ihren Beruf aufgeben mussten, ohne medizinische Versorgung und ständig um ihre soziale Sicherung kämpfend, sofern das ihr Zustand überhaupt zulässt.
chilli: Warum kommt die Medizin hier nur langsam oder gar nicht voran?
Heiner: Es fehlt ganz einfach die Bereitschaft in Politik und Medizin, das Problem in seinem ganzen Ausmaß wahrzunehmen und der politische Wille, die zur Lösung erforderlichen Entscheidungen zu treffen und umzusetzen, möglicherweise auch gegen Widerstände. Aufrichtige Ärztinnen und Ärzte, Politikerinnen und Politiker bleiben Einzelkämpfer und können das System als Ganzes nicht ändern.
chilli: Wie viel Unterstützung bekommen Sie von der Uniklinik Freiburg?
Heiner: Ich bin mir keiner Unterstützung durch die Uniklinik bewusst. Umgekehrt suchen wir immer wieder das Gespräch und den Austausch mit den zuständigen Ärztinnen und Ärzten in den jeweiligen Bereichen und leisten anerkannter Weise wichtige Beiträge, wie zum Beispiel
- zu angepassten Aufnahmeverfahren, die Patient·innen sensorisch nicht überfordern,
- zur konsequenten Trennung der ME/CFS-Subgruppe in Long Covid-Studien, damit mehr Ergebnisse auch für ME/CFS erzielt werden können
- oder zu Studienprotokollen, wie zuletzt der geplanten ACHTSAM-Studie des bekannten EPILOC-Konsortiums unter Leitung von Prof. Winfried Kern.
chilli: Den Umgang dort mit Betroffenen haben Patient·innen in unserer letzten Recherche stark kritisiert. Wie ist das heute?
Heiner: Ihre investigative Recherche und Dokumentation „Keine ärztliche Hilfe“ wurde von der Uniklinik aus meiner Sicht komplett ohne Kommentar und ohne Konsequenzen übergangen. Mir ist keine Reaktion darauf seitens der Uniklinik bekannt. Dieser Vorgang gibt einen deutlichen, diesmal öffentlichen Hinweis auf die Starre und Unveränderlichkeit des Systems. Auch aus den Reihen der Selbsthilfe kenne ich keine Berichte, die auf eine geplante und systematische Verbesserung der Situation schließen ließen.
chilli: Was kann Ihre Initiative als Unterstützung bieten?
Heiner: Das Ziel der Initiative ME/CFS Freiburg ist es, auf politischer Ebene durch Information und Öffentlichkeitsarbeit darauf hinzuwirken, die Situation ME/CFS-Betroffener zu verbessern. Wir bieten als direkte Unterstützung für Betroffene allenfalls die Vermittlung zur ME/CFS-Selbsthilfe und dem Pacingteam Freiburg sowie den Erhalt einer unregelmäßig verschickten Rundmail an. Ein konkreter Erfolg dieses Jahres war die Entwicklung einer Handreichung für Gutachter, die von der ME/CFS-Selbsthilfe Freiburg erstellt und durch unsere Kontakte mit der Leitungsebene des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen in BW (MD) gemeinsam abgestimmt werden konnte. Es war zu beobachten, dass viele Begutachtungen durch den MD danach wesentlich besser auf die speziellen Erfordernisse des Begutachtungsprozesses angepasst waren und auch die Ergebnisse wesentlich besser den bestehenden Beeinträchtigungen entsprachen. Das ist eine ganz konkrete, vorzeigbare Unterstützung Betroffener durch unsere Gremienarbeit.
chilli: Was benötigen Betroffene am dringendsten?
Heiner: Wissen, was Pacing ist. Einen Arzt oder eine Ärztin, die sich mit der Krankheit auskennt. Den Kontakt zur ME/CFS-Selbsthilfe.
chilli: Was lässt Sie hoffen, dass sich die Lage verbessert?
Heiner: Obwohl ich jeden Tag viele dicke Bretter bohre und manchmal meine, nur Stillstand zu sehen, sind über einen längeren Zeitraum doch viele Fortschritte sichtbar. Allein die nun 2. ME/CFS Kundgebung am 10. Mai mit dem Schirmherren Herrn von Kirchbach und der Hauptrednerin Chantal Kopf MdB wäre noch vor einem Jahr nicht vorstellbar gewesen. Mindestens genauso wichtig ist die Vernetzung mit Kultur und Sport. So haben wir zusammen mit dem EHC zu deren Teddy Bear Toss am 22. Dezember eine Aufklärungs- und Spendenkampagne durchgeführt und beim SC Freiburg gibt es die Aktion „EMPTY STANDS“, mit der Fußballfans mit ME/CFS für die Sichtbarkeit der Krankheit im Stadion kämpfen. Diese Entwicklungen müssen weitergehen, damit ein breites öffentliches Bewusstsein entsteht. Und dann kann Vieles, wie bei anderen politischen Themen zu besichtigen, u.U plötzlich sehr schnell gehen.
ME/CFS-Aktionstag in Freiburg
In Freiburg gibt am Samstag, 10. Mai, eine Liegend-Demo. Sie findet von 13 bis 14.30 Uhr auf dem Platz der Alten Synagoge statt. Schirmherr ist Freiburgs Erster Bürgermeister Ulrich von Kirchbach. Als Redner·innen sind angekündigt: Chantal Kopf MdB, Prof. Dr. P. Gerner Chefarzt Kinderklinik Ortenau und Helmut Frahs, pflegender Vater seiner schwerstkranken Tochter. Der Aktionstag steigt im Rahmen des Interantionalen ME/CFS-Tag am 12. Mai. Er findet seit Anfang der 90er Jahre am Geburtstag von Florence Nightingale (1820-1910) am 12. Mai statt. Sie wurde zur stillen Schirmherrin für ME/CFS. Florence Nightingale, die Begründerin der modernen westlichen Krankenpflege, war nach dem Krimfieber jahrzehntelang postinfektiös mit ME/CFS-ähnlichen Symptomen bettlägerig und hat selbst vom Bett aus ihre Mission fortgesetzt.
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