»Ein Ladensterben will keiner«: Wie Freiburgs Innenstadt aus der Krise kommen kann STADTGEPLAUDER | 12.11.2021 | Liliane Herzberg, Pascal Lienhard, Till Neumann und Philip Thomas

Ladenschild geschlossen

Es ist ein Paukenschlag: Das Modehaus Kaiser wird 2022 alle drei Häuser in Freiburg schließen. 215 Angestellte verlieren ihren Job. Gründe sind für den Inhaber die Corona-Krise und der Online-Handel. Sorge macht sich breit, dass weitere Händler folgen könnten. Was also tun? Das chilli hat Stimmen gesammelt aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Die Ideen sind vielfältig: von Paketbox über kostenlosen ÖPNV bis zum lokalen Amazon. Einigkeit besteht in einem Punkt: Ein „Weiter-so“ reicht nicht.

Virus ist Brandbeschleuniger

Für Dieter Tscheulin ist der Einzelhandel schon seit 20 Jahren im Umbruch: „Shopping ist nicht mehr die Freizeitbeschäftigung, die es einst war“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler der Uni Freiburg. Der Trend gehe außerdem zur Kette. Während der Umsatz von Kaiser und Co. unterm Strich um 50 Prozent abnahm, stiegen die Erlöse von KIK und Konsorten in dieser Zeit um 50 Prozent: „Die Big Player können dem Preisdruck, steigenden Mieten sowie teuren Verkaufsflächen besser standhalten.“

Doch auch den großen Ketten gräbt das Internet zunehmend das Wasser ab: Laut Tscheulin betrug der Anteil von E-Commerce an Einzelhandelsprodukten im Jahr 2005 rund ein Prozent. 2018 waren es knapp zwölf Prozent. Elektrogeräte (62 Prozent) oder Bekleidung (51 Prozent) wurden in Deutschland im Jahr 2019 zu einem Großteil online abgesetzt. Das Coronavirus habe gewirkt wie ein Brandbeschleuniger. „In der Pandemie haben 45 Prozent der Deutschen zum ersten Mal Drogerieartikel online gekauft“, so Tscheulin.

Digitalisierung verschlafen?

Der stationäre Handel habe dort Vorteile, wo persönliche Produktprüfung notwendig ist. „Eine Matratze oder Gemüse nehmen wir vor dem Kauf gerne in die Hand“, sagt der 62-Jährige. Auf der Hand liegen allerdings auch die Vorteile von E-Commerce: Online gibt es keine Öffnungszeiten, Preise sind oft niedriger, Rückgaben verhältnismäßig unkompliziert. „Filialen haben Ladenmiete, Personalkosten und daher die geringeren Margen“, erläutert Tscheulin.

Hat der Einzelhandel die Digitalisierung verschlafen? „Politisch wird das gerne gesagt, ich sehe das nicht so“, betont Tscheulin. Viele Ladengeschäfte bieten das zusätzlich an – die digitale Marktmacht der Online-Riesen sei aber einfach zu groß. „Tippen Sie bei Suchmaschinen mal ‚Mütze‘ ein. Freiburgs Modehäuser finden sie dort erst auf Seite drei oder vier“, sagt der Marketingexperte. Um mehr Online-Sichtbarkeit zu bekommen und den Trend umzukehren, müssten sich Einzelhändler zusammenschließen.

Freiburger Innenstadt, Konviktstraße

Leergefegt: Die Pandemie hat die Innenstadt hart getroffen – auch in der Konviktstraße ist das zu spüren.

Lokales Amazon scheitert

Die Idee hatten zuletzt vier junge Freiburger. Sie bastelten an einer Art lokalem Amazon namens localsforall. Mit einem nachhaltigen Ansatz: Die Ware sollte per Lastenrad geliefert werden. Im April ging die Plattform an den Start. Doch nur zehn Geschäfte oder Cafés machten mit. „Die letzte Bestellung ging im August ein, auch bis dahin wurde das Angebot schlecht angenommen“, erzählt Nils Gutgsell, einer der Gründer. Im September hat das Team localsforall eingestellt.

Vom Tisch ist die Idee nicht: Die Freiburg Wirtschaft Touristik und Messe GmbH (FWTM) arbeitet an einem Konzept, das localsforall gleichen könnte. Details kann Pressesprecher René Derjung aber noch nicht verraten. Auch „Regional Bringt’s“ versucht in Freiburg, Anbieter digital zu bündeln und zu fairen Konditionen zu liefern. Rund 30 Erzeuger sind im Netzwerk von Landwirtin Katharina Mensch am Start. Mehr als 500 Käufer haben bereits bestellt. Ein Achtungserfolg, der aber auch zeigt: Einen konkurrenzfähigen Online-Handel mit großer Reichweite aufzubauen, ist schwierig.

„Mir ein völliges Rätsel“

Nicht nur der Online-Boom bereitet der Freiburger Innenstadt Probleme. Auch die Erreichbarkeit erhitzt die Gemüter. Für Martin Lauby von der Händlergemeinschaft „z Friburg in der Stadt“ ist sie ein Knackpunkt. „Wir haben etwa eine Million Konsumenten ringsrum.“ Man müsse die Stadt mit dem gesamten Umland wahrnehmen und begreifen. Auch die Menschen auf dem Land könnten und wollten auf eine individuelle Mobilität nicht verzichten. Weniger Platz für Autofahrende sei daher nicht zielführend, findet der Center Manager der Schwarzwald City. Auch E-Autos, die Feuerwehr, Krankenwagen oder Lieferanten bräuchten Straßen. „Die geplante Einspurigkeit für den motorisierten Individualverkehr am Schlossbergring zugunsten einer Fahrradstraße ist mir ein völliges Rätsel”, sagt Lauby. „Ich kann nicht glauben, dass man in der aktuellen Situation so etwas ernsthaft beschließen kann.“

Auch Stefan Schupp, Vorstandsmitglied der Freiburger Händlerinitiative Herzschlag und Geschäftsführender Gesellschafter von Schafferer, sieht die Erreichbarkeit der City kritisch. Jeder zweite Besuchende sei aus dem Umland, sagt Schupp: „Für Besucher, die auf das Auto angewiesen sind, ist es zu kompliziert und zu teuer. Hier braucht es glaubwürdige Alternativen wie ein attraktives, mit dem ÖPNV verbundenes Park’n’Ride-Angebot.“

Straßburg hat eine Idee

In Straßburg gibt es das: Für 4,20 Euro pro Tag kann dort das Auto auf elf über die Stadt verteilten Park&Ride-Plätzen mit angebundener Tram-Station stehen. Die Besonderheit: Das Parkticket ist ein ÖPNV-Fahrschein für bis zu sieben Personen.

Straßenbahn fährt durch Freiburger Innenstadt

Fahren ohne Fahrschein: Samstags ist das anderswo möglich – in Freiburg nicht.

Auch andere Städte gehen voran: Schon seit 2018 gibt es in Tübingen an Samstagen den kostenlosen TüBus. Alle Busfahrten im Stadtgebiet gibt’s da gratis. Die Kosten von 260.000 Euro im Jahr trägt die Stadt. Auch Stuttgart hat den kostenfreien ÖPNV am Wochenende im September getestet: „Die Aktion war ein Erfolg“, informiert die städtische Pressestelle. 19 Prozent mehr Fahrgäste waren es am Samstag, ein Plus von 14 Prozent am Sonntag. 450.000 Euro hat die Landeshauptstadt dafür ausgegeben. 2022 soll es zwei weitere kostenlose ÖPNV-Tage geben.

40.000 Euro für kostenlosen ÖPNV-Tag

In Freiburg gibt es das nicht. „Maßnahmen, die die Attraktivität des ÖPNV erhöhen, sind immer in unserem Sinne“, sagt Andreas Hildebrandt, Sprecher der Freiburger Verkehrs AG (VAG). 40.000 bis 45.000 Euro würde ein kostenloser ÖPNV-Tag hier kosten, schätzt er. Und verweist auf andere Aktionen mit dem Einzelhandel. Rabatt-Aktionen habe ­es
beispielsweise gegeben. Ab einem bestimmten Einkaufswert gibt es für Kund·innen einen Gutscheincode für einen digitalen Einzelfahrschein.

Klar sei aber, sagt Stefan Schupp, dass auch der Einzelhandel etwas tun muss. Er selbst hat bei Schafferer investiert: „Wir haben unser Geschäft modernisiert. Die Funktion der Warenversorgung steht nicht mehr im Vordergrund, sondern das Gesamteinkaufserlebnis muss stimmen.“ Er habe deshalb zum Beispiel die Gastronomie ins Haus geholt. Als Händler habe er aber eben nur gewisse Möglichkeiten, die er ausschöpfen könne. Wenn Kund·innen erst mal ihr Einkaufsverhalten veränderten, sei es nicht mehr so einfach, sie wieder für die Innenstadt zu gewinnen.

Um der Digitalisierung des Einzelhandels sowie leeren Innenstädten entgegenzuwirken, gibt es eine weitere Idee: die „FashionBox.mg“ in Mönchengladbach. Sie soll Lieferwege sparen und Menschen in die Innenstadt locken. Dabei werden Online und Offline verknüpft: Kund·innen können im Internet bestellte Ware direkt in die Fashionbox liefern lassen. Das ist ein Café mit verschließbaren Paketboxen. Die Ware kann dort abgeholt, anprobiert und retourniert werden. Im Smart-Mirror gibt’s sogar eine Selfie-Kamera.

Zoff um verkaufsoffene Sonntage

Auch verkaufsoffene Sonntage sind in der Diskussion. Fürs Freiburger Stadtjubiläum war einer geplant, dieser musste aber coronabedingt ausfallen. OB Martin Horn hat sich dafür stark gemacht, ihn nachzuholen. Für Martin Lauby von „z Friburg in der Stadt“ wäre das mehr als fair. „Wir sind fast die einzige Stadt, die keinen verkaufsoffenen Sonntag hat.“ Auch im direkten Umland sei das Standard, in Freiburg nicht. „Es geht hier um eine zeitgemäße Haltung“, sagt Lauby mit Blick auf den daueroffenen Online-Handel.

Doch Markus Klemt, verdi-Gewerkschaftssekretär für den Bezirk Südbaden, sieht verkaufsoffene Sonntage mit Sorge. Auch Einkaufsmöglichkeiten bis in die späten Abendstunden lehnt der 60-Jährige ab. „Wer von 8 bis 20 Uhr nicht genügend Zeit hat, sollte einen Arzt sprechen, keinen Verkäufer“, scherzt Klemt. „Wir können allerdings nicht verkennen, dass es eine Klientel gibt, die mit Blick auf Zuschläge bereit ist, zu solch ungünstigen Zeiten zu arbeiten.“

Fraiburg Innenstadt bei Nacht

Nachts shoppen? Nur im Netz.

Kirche stemmt sich dagegen

Auch die Kirche ist dagegen: „Das Erzbistum Freiburg setzt sich dafür ein, den Sonntag und die Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung im Sinne unserer Landesverfassung und des Grundgesetzes zu schützen“, sagt Michael Hertl, Sprecher des Erzbischöflichen Ordinariats Freiburg. Mit der evangelischen Kirche, Gewerkschaften und weiteren Partnern hat sie daher die „Allianz für den freien Sonntag“ in Baden-Württemberg gegründet.

Sonntag hin oder her. Es gibt Lichtblicke im Herzen der kriselnden Großstadt. So hat gerade das Modelabel Freiburgs Finest den Zuschlag für einen Laden an der Schusterstraße 25 bekommen. Jungunternehmer Anton Würmlin (29) bekommt dabei Unterstützung von der Stadtverwaltung: Sie bietet ihm einem „humanen Mietpreis“. „Die Entwicklung in der Innenstadt bereitet uns Sorgen“, sagte Finanz-Bürgermeister Stefan Breiter bei der Pressekonferenz. Das zeigt auch die geringe Nachfrage für die Ladenfläche: Nur fünf Bewerbungen sind beim Amt für Liegenschaften und Wohnungswesen (ALW) eingegangen. Den Zuschlag bekam Würmlin, der optimistisch ist: „Ich glaube, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um mit einem nachhaltigen, regionalen Konzept die Innenstadt positiv zu verändern.“

Streetware-Label macht Hoffnung

Seit August boten die Räume an der Schusterstraße 25 Platz für Pop-up-Stores. Die FWTM übernahm Betriebskosten und Gesamtorganisation, Miete fiel nicht an. Das Projekt ist Teil eines Sofortprogramms, das der Gemeinderat im Sommer beschlossen hat. Mit diesem sollen Handel, Tourismus und Kultur gefördert werden. Aufgrund positiver Resonanz arbeitet die FWTM an einem langfristigen Pop-up-Store-Konzept, das dem Gemeinderat im ersten Quartal 2022 vorgelegt werden soll.
Das ändert nichts daran, dass einige Branchen extrem hart getroffen sind: Die Bekleidungs- und Schuhbranche habe in der Pandemie am meisten gelitten. „Umsatzeinbußen bewegen sich in der Größenordnung von 30 Prozent“, sagt Peter Spindler, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Südbaden.

Das Stimmungsbild in Südbaden sei gemischt. „Es gibt Händler, die sich zunehmend digital aufstellen. Andere werden im Internet wenig präsent sein“, sagt Spindler. Ihm wird häufiger angetragen, dass sich Onlineshops für manche Einzelhändler schlicht nicht rechnen. „Einige haben nicht die Finanzkraft, um das aufzuziehen und investieren lieber in Verkaufskräfte“, berichtet der 62-Jährige.

„Ein Ladensterben will keiner“

Für Spindler ist der Einzelhandel noch lange nicht abgeschrieben: „Dem muss ich vehement entgegentreten.“ Die Online-Konkurrenz werde wachsen, allerdings werde es auch immer Menschen geben, die sich treffen wollen, um gemeinsam einkaufen zu gehen. „Die Verantwortlichen haben begriffen, dass die Städte zu erhalten sind. Die Zentren sind das Gesicht der Stadt. Ein Ladensterben will keiner“, sagt Spindler. Dazu müsse aber das Umfeld angepasst werden. Entscheidend sei auch das Wechselspiel mit der Gastronomie. Falle ein Teil weg, könne der andere nicht überleben.

Fotos: © iStock.com/Heiko119; tln; picture alliance/dpa | Patrick Seeger 

Dramatische Situation: Freiburger Händler kämpfen ums Überleben