Quälendes Tabu: Eine junge Frau, eine Gynäkologin und eine Beratering über Schwangerschaftsabbrüche Gesellschaft | 06.09.2024 | Philip Thomas und Till Neumann
Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland weiterhin strafbar. Nur unter bestimmten Bedingungen können sie trotzdem durchgeführt werden. Eine Expertenkommission der Bundesregierung hat im April die Entkriminalisierung gefordert. Was würde das ändern — auch in Freiburg? Eine Gynäkologin, eine Schwangerenberaterin und eine Frau, die abgetrieben hat, geben tiefe Einblicke in innere Zerrissenheit.Alle drei unterstreichen: Abtreibungen sind weiter ein Tabu — und das bringt Konflikte mit sich.
„Es war klar, dass wir abtreiben“
Als Angela Maier (Name von der Redaktion geändert) im Sommer 2022 von ihrer Schwangerschaft erfährt, ruft sie zuerst ihre beste Freundin an. „Ich konnte es zunächst gar nicht fassen und musste unbedingt mit jemandem sprechen“, berichtet sie. Auch die Vertraute sei schockiert gewesen, habe der 26-Jährigen aber schnell Mut zugesprochen. Beim anschließenden Telefonat mit ihrem Freund – dem potenziellen Vater – wird deutlich, dass dieser das Kind noch weniger will als die Studentin. „Wir waren vier Monate zusammen und ich wollte ihm kein Kind aufdrücken. Es war direkt klar, dass wir abtreiben werden.“
Dann wählt Maier die Nummer ihrer Frauenärztin. Maier ist zu diesem Zeitpunkt in der sechsten Woche schwanger – zu spät für eine chemische Abtreibung. Der Fötus muss operativ entfernt werden. Bis zu zwölf Wochen nach der Empfängnis kann in Deutschland straffrei abgetrieben werden. In Frankreich bis zur 16. Woche, in Österreich bis zur 18. Woche, in Holland bis zur 24. Woche. Noch am selben Tag bekommt Maier einen Termin bei der Ärztin. Diese verweist sie an einen Freiburger Gynäkologen, der Schwangerschaftsabbrüche durchführt.
„Absolut geheim gehalten“
Davor wird Maier in einer Beratungsstelle vorstellig. Um in Deutschland einen straffreien Schwangerschaftsabbruch durchführen zu lassen, ist ein sogenannter Beratungsschein erforderlich. Liegt dieser vor, müssen mindestens drei Tage vergehen bis zum Abbruch. Bedenkzeit. „Ich habe mich für Pro Familia entschieden, weil dahinter kein christlicher Träger steckt“, so Maier. Das Gespräch dauert rund 20 Minuten: „Ich wurde gefragt, ob ich mir sicher bin. Ob mein soziales Umfeld das Kind akzeptieren würde. Warum ich das Kind nicht will. Ob ich mir vorstellen könnte, das Kind alleine aufzuziehen und ob ich es nicht bereuen werde.“
Trotz der Fragen – Maier ist fest entschlossen. Allerdings zieht sich die Freiburgerin während ihrer zwölfwöchigen Schwangerschaft immer weiter zurück. „Wir haben es absolut geheim gehalten. Das war wirklich belastend.“ Und das, obwohl Maiers Bekanntenkreis deutlich „pro Choice“ ist. „Eigentlich gab es keinen Grund, mich zu schämen. Trotzdem war ich sehr befangen.” Auch heute kennt die Geschichte nur ein kleiner Kreis, „aber mittlerweile finde ich es befreiend, darüber zu reden“, sagt sie zwei Jahre später.
„Hatte Angst vor der Macht“
Beim Gynäkologen fühlt sich Maier gut aufgehoben. „Für mich war es eine emotionale Achterbahnfahrt, für den Arzt war es ein Job. Er wusste, was er tut und wie er mich anfassen muss“, berichtet Maier. Bei der Untersuchung dreht der Freiburger Arzt den Ton des Ultraschall-Geräts ab. „Damit ich den Herzschlag nicht hören muss“, erklärt Maier. „Da wurde mir das erste Mal richtig klar, dass ein Leben in mir pocht. Und ich hatte Angst vor der Macht, die ich über ein Wesen ausübe, das sein könnte.“
Das Kind wäre gesund gewesen. Aber Maiers Entschluss steht fest. Sie bekommt eine Misoprostol-Tablette, die vor dem Eingriff den Muttermund weitet, und einen Termin in einer kleinen Umkircher Klinik. „Von außen sah sie aus wie ein gewöhnliches Wohnhaus“, erinnert sie sich. Auch auf Karten im Internet ist die Praxis nicht markiert. „Mein Freund hat mich da hingefahren, ich war ziemlich aufgeregt. Ich hatte noch nie zuvor eine OP“, sagt sie.
„War es egoistisch?“
Zwei Stunden später wacht Maier in einem kleinen Nebenraum der Klinik auf: „Ich habe schnell gemerkt, dass ich eine Windel trage. Es sah aus wie in einer Jugendherberge. Fünf Betten, Nachttische. Ich habe mich dort nicht unwohl gefühlt.“ Eine Schwester bringt Pfefferminztee. „Sie berichtete mir, dass einige Frauen dort mehrmals pro Jahr hingehen. Sie nennen sie Stammgäste.“
Schmerzen hat Maier nicht. Aber ihr Gewissen plagt sie. „Es war ein Hin und Her zwischen Erleichterung und Bedauern. Ich frage mich schon, ob das die richtige Entscheidung gewesen ist. War es ein Fehler? War es egoistisch? Was wäre passiert, wenn ich das Abenteuer eingegangen wäre?“
Viele Taschentücher zum Trösten
Solche Fragen kennt Bärbel Wagner bestens. Sie ist seit 20 Jahren in der Schwangerschaftsberatung tätig. 15 Jahre war sie in Konstanz. Seit fünf Jahren ist sie bei der Anlaufstelle des Diakonischen Werks Freiburg tätig. Die Entkriminalisierung von Abbrüchen ist „mein großes Thema“, betont die 68-Jährige. Die Gesetzesänderung hält sie für essentiell. „Sie wissen gar nicht, wie viele Taschentücher ich hier verbrauche“, berichtet Wagner. Die Frauen seien so verängstigt, so sehr im Zweifel wegen eines möglichen Abbruchs. „Und dann diese Kriminalisierungsgeschichte, ich muss es immer dazusagen: Bei uns ist der Abbruch nicht straffrei. Es sei denn, sie halten sich an diese bestimmten Kriterien.“ Da bekämen die Frauen erst mal einen großen Schreck.
Ein zweiter Punkt sei, die nötigen Informationen zu bekommen. „Für viele ist ein Abbruch mit ganz großer Scham behaftet“, berichtet Wagner. Viele trauten sich daher nicht, in der Nachbarschaft oder im Freundeskreis darüber zu sprechen. „Weil es ein Tabuthema ist. Diese Kriminalisierung ist eine Keule.“ Für Wagner ist klar: „Das muss weg.“ Dass die Regierung der Empfehlung der Kommission folgt, bezweifelt sie stark. „Ich glaube, da wird nichts weiter passieren.“
Abbruch kostet bis zu 1000 Euro
Die Leiterin der Kommission, Strafrechtlerin Liane Wörner von der Universität Konstanz, hatte im April betont: „Die grundsätzliche Rechtswidrigkeit des Abbruchs in der Frühphase der Schwangerschaft ist nicht haltbar. Hier sollte der Gesetzgeber tätig werden und den Schwangerschaftsabbruch rechtmäßig und straflos stellen.“ Kanzler Olaf Scholz forderte daraufhin, die Diskussion in ruhiger und sensibler Weise zu führen.
Ein weiterer Punkt sind die Kosten. „Ein medikamentöser Abbruch bis zur siebten Woche kostet bis zu 700 Euro“, berichtet Wagner.
„Der operative, also eine Ausschabung, kann bis zu 1000 Euro kosten.“ Bei der Krankenkasse gebe es die Möglichkeit für eine Übernahme der Kosten. Dafür müsse die Frau ihr eigenes Einkommen nachweisen. „Aber dafür muss sie zur Krankenkasse“, betont Wagner. Davor schämten sich viele. Daher rät sie gerade Frauen aus dem Umland, das in einer größeren Stadt zu tun.
„Viele Verhütungsfehler in Freiburg“
Freiburg ist ein spezielles Pflaster, findet Wagner. „Es gibt einfach ganz viele Verhütungsfehler, gerade hier in Freiburg, wo man ein bisschen öko ist.“ Frauen möchten keine Chemie, versuchten es anders. Das klappe viele Jahre und dann mal nicht. Bei einer Beratung brauche es viel Empathie, „damit die sich lösen können“. Wagner weiß: „So ein Abbruch kann psychische Folgen haben.“ Der errechnete Geburtstermin könne trotz Abbruch jahrelang wichtig bleiben. In eine bestimmte Richtung zu beraten, sei falsch. „Meine Aufgabe ist, mit der Frau Impulse zu entwickeln, damit sie eine für sich richtige Entscheidung treffen kann“, betont sie. Viele Frauen seien bis zuletzt hin- und hergerissen. Die Entscheidung eines Abbruchs könne noch am OP-Tisch revidiert werden.
Doch die Suche nach einer Praxis ist schwierig. Im öffentlichen Register der Bundesärztekammer ist keine einzige Praxis in oder um Freiburg zu finden. Ein dunkler Fleck, obwohl 2022 das „Werbeverbot“ gefallen ist. Seitdem können Ärzt·innen darüber informieren, dass sie Abbrüche vornehmen. Da das in Freiburg nicht der Fall ist, helfen Beratungsstellen weiter. In Freiburg sind das Pro Familia, Donum Vitae und das Diakonische Werk. Auch Bärbel Wagner hat eine solche Liste. Sieben Anlaufstellen sind dort zu finden.
„Mache es aus feministischer Überzeugung“
Dass die Praxen geheim bleiben wollen, kann Wagner nachvollziehen. In größeren Städten wie Köln, Berlin oder Düsseldorf sei so etwas einfacher. „Da herrscht ein anderer Geist“, betont die Expertin. Noch vor 20 Jahren seien täglich sogenannte Lebensschützer vor einer großen Freiburger Beratungsstelle gestanden und hätten gegen Abtreibungen protestiert: „Das war ganz furchtbar.“ Dass die Regierung reagiert, begrüßt sie: Wer Schwangere oder medizinisches Personal wegen Abtreibungen behindert, kann neuerdings mit einem Bußgeld von bis zu 5000 Euro belangt werden.
Von Kritik und Anfeindungen kann auch eine Freiburger Gynäkologin berichten. Leonie Warth hat schon 2018 im Studium an der Uni Freiburg für eine Enttabuisierung gekämpft. Heute nimmt die 29-Jährige selbst Abtreibungen vor und sagt: „Ich mache das auch aus einer feministischen Überzeugung heraus.“ Doch einfach ist es nicht: Es gebe keinen anderen Bereich in der Medizin, „wo man sich in der Illegalität bewegt und das auch gar nicht anders machen kann“. Von vornherein eine Strafverfolgung angedroht zu bekommen, mache diesen Eingriff anders als alle anderen.
Zahl der Anbieter hast halbiert
Bis zu acht Eingriffe in der Woche nimmt Warth vor. Operativ und medikamentös. Als Kriminelle fühlt sie sich dabei nicht. „Meistens fühlt es sich einfach an wie völlige Routine.“ Grenzfälle erlebt sie dennoch: Wenn verzweifelte Frauen vor ihr sitzen und die gesetzliche Frist für einen Abbruch einen Tag abgelaufen ist. „Dann muss ich sagen: Nein, das geht nicht“, berichtet Warth.
Die Freiburgerin ist ein seltener Fall. Kaum ein Arzt möchte sich zu dem Thema äußern. Immer weniger Ärzt·innen nehmen überhaupt Abbrüche vor. Von 2003 bis 2021 ist die Zahl der Praxen und Krankenhäuser, die grundsätzlich Abbrüche durchführen, um fast 46 Prozent gesunken, meldet das Statistische Bundesamt. Von 2050 auf 1109. Das Angebot ist freiwillig. Kein Arzt ist dazu verpflichtet.
Seminar an der Universität
„Viele Kolleg·innen sind abgeschreckt, niemand will was Illegales machen”, berichtet Warth. Sie tut es dennoch – aus Überzeugung – und findet den Vorstoß der Kommission zur Entkriminalisierung richtig. Dass Schwangerschaftsabbrüche nicht Teil der medizinischen Ausbildung sind, trage ebenfalls zu dem Missstand bei. Mittlerweile gebe es zwar ein freiwilliges Seminar an der Uni Freiburg dazu, der dozierende Arzt möchte dazu dem chilli gegenüber jedoch keine Auskunft geben. Mutmaßlich fürchtet auch er sich vor Anfeindungen.
Die ärztliche Abdeckung für Abbrüche in Freiburg ist okay, berichtet Warth. Doch Richtung Waldshut und im Südschwarzwald sei es katastrophal. Viele Frauen von dort kämen bis zu ihr in die Praxis.
„Vielleicht hätte ich es bekommen sollen“
Dass sie für ihre Haltung kritisiert wird, das weiß Leonie Warth. „Es gab schon ab und zu mal Schmierereien auf Schildern”, erinnert sie sich. „Einmal ist auch ein Backstein durchs Fenster geflogen.” Das sei aber einige Jahre her. Bei Warth haben solche Vorfälle dennoch zu einem Sinneswandel geführt. So lässt sie sich nicht auf die öffentliche Bundesliste setzen. In den Beruf sei sie mit großem Idealismus gestartet – und der Haltung: „Na klar, ich mach eine Website, ich schreib überall meinen Namen hin.” Doch geschehen ist das nicht. „Man wird schon so ein bisschen desillusioniert, wenn man das für eine Weile macht”, sagt Warth. Sie habe eine Verantwortung gegenüber ihren Patientinnen und Angestellten. Deswegen sei sie vorsichtiger geworden. Zumal gelte es, die Versorgungslage aufrechtzuerhalten. Da rücken solche Dinge in den Hintergrund.
Für Angela Maier ist ihr Abbruch von 2022 weiter präsent. „Insgesamt bin ich froh, wie es gelaufen ist, aber es gibt einfach keinen guten Zeitpunkt, ein Kind zu kriegen. Vielleicht hätte ich es einfach bekommen sollen.“
Fotos: © Till Neumann/freepick.com
Tiefsitzendes Tabu: Streit um Schwangerschaftsabbrüche schwelt – auch in Freiburg