Hören und gehört werden: Zur guten Verständigung gehören stets zwei Seiten Gesund & Fit | 12.05.2024 | Reinhold Wagner
Wenn von Hammer, Amboss und Steigbügel die Rede ist, geht es in aller Regel nicht um den Beruf des Pferdeschmieds. Die drei Begriffe bezeichnen die feinen Knöchelchen im Mittelohr, die der Schallübertragung dienen. Anders als die Namen vermuten lassen könnten, verträgt das menschliche Ohr nur sehr zarte, feine Geräusche und Schwingungen. Dies gilt es, bis ins hohe Alter zu bewahren.
Extremer Lärm und Dauerbeschallung, aber auch Ohrschmalzpfropfen, Entzündungen und andere Beeinträchtigungen können das Ohr langfristig und unumkehrbar schädigen. Dabei spielt das Alter nur bedingt eine Rolle. Auch junge Menschen können, wenn sie erkranken oder ihr Gehör dauerhaft hohem Schall aussetzen, schwerhörig werden. Im Gegensatz zum Verlust des Augenlichts oder des Geruchssinns setzt der Hörverlust schleichend und anfangs oft unbemerkt ein. Die dabei verloren gehenden Hörsinneshaarzellen lassen sich dann nur noch durch ein Hörgerät stimulieren. Je eher der schleichende Verfall bemerkt wird, desto leichter lässt sich dagegensteuern. Etwa durch Ohrstöpsel oder eine andere Art von Schallschutz, durch aktives Vermeiden von Lärm und durch frühzeitige, präventive und regelmäßige Hörtests.
Das sagt die Wissenschaft
Das junge menschliche Gehör nimmt Geräusche etwa zwischen 15 Hertz (tiefe Töne) und 20 Kilohertz (hohe Töne) wahr. Langjährige Überbelastung und zunehmendes Alter führen dazu, dass zunächst die hohen Töne nicht mehr wahrgenommen werden können, da dieser Bereich in der Gehörschnecke im Innenohr am stärksten beansprucht wird. Vogelgezwitscher verstummt schleichend und unbemerkt, und auch die Lautstärke, mit der Musik und Sprache noch zu verstehen sind, muss entsprechend erhöht und verstärkt werden. Da außenstehende Gesprächspartner Defizite meist eher bemerken, sollte man auf entsprechende Hinweise achten und diese ernst nehmen. Betroffene selbst bemerken den schleichenden Prozess der Hörminderung oft erst, wenn die gewohnt deutliche Aussprache von professionellen Stimmen aus Radio und Fernsehen nur noch undeutlich und bei stärkster Konzentration zu verstehen sind oder klare Verständigung in ruhiger Umgebung zum Problem wird. Dagegen helfen weder Medikamente noch eine medizinische Behandlung. Jetzt kann nur noch ein Hörgerät Abhilfe schaffen.
Forschung und Medizin
Hören bedeutet aber nicht nur, Töne wahrzunehmen, sondern vor allem auch zu verstehen: die Übertragung der Sinnesreize vom Trommelfell zum Gehirn und die korrekte Verarbeitung und sinnhafte Deutung des Gehörten. Auch hier kann vieles schieflaufen. Ein schleichender Hörverlust im Berufs- und Lebensalltag bedeutet weit mehr als „nur“ das Nachlassen des Hörens.
In zwei unabhängigen Studien – eine in den USA und eine in Frankreich – konnte nachgewiesen werden, dass ein Hörverlust zugleich den kognitiven Verfall beschleunigt, das heißt den Verlust von Hirngewebe, das speziell für die Verarbeitung von Klang und Sprache verantwortlich ist. Zudem ließ sich nachweisen, dass Schwerhörige bis zu fünfmal häufiger eine Demenz entwickeln. Eine Langzeit-Studie in Frankreich mit mehr als 3600 Teilnehmenden, die sogenannte „Paquid“-Studie, startete bereits 1990 und wurde über 25 Jahre hinweg kontinuierlich ausgewertet. Auch sie ergab: Schwerhörige, die ein Hörgerät nutzten, standen auf derselben kognitiven Leistungsstufe wie Gesunde. Diejenigen ohne Hörgeräte hingegen litten unter starkem kognitivem Verfall, der nicht durch das schlechte Hören an sich verursacht wurde, sondern durch die psychischen und sozialen Auswirkungen der Schwerhörigkeit.
Fazit unter Fachleuten
Hörakustiker – neben dem HNO-Arzt die erste Anlaufstelle für Betroffene – stellen immer wieder in ihrer Praxis fest, dass Betroffene zu lange warten, bis sie gegen ihren Hörverlust aktiv vorgehen – im Schnitt etwa sieben Jahre. Das Tragen von Hörgeräten ist bei vielen Menschen zu Unrecht mit einem Vorurteil behaftet: Wer ein Hörgerät trage, sei nicht mehr leistungsfähig oder beeinträchtigt. Umso erstaunlicher, dass eigentlich das Ignorieren der eigenen Schwerhörigkeit selbst diese Einbußen erst verursacht.
Neue Ansätze in der Behandlung von Schwerhörigkeit ergänzen modernste Hörgerätetechnik mit einer begleitenden Therapie, um den komplexen Bedürfnissen eines schlechten Gehörs besser gerecht zu werden. So kombiniert zum Beispiel die in der Schweiz entwickelte KOJ®Gehörtherapie den Einsatz eines Hörgeräts bei beginnendem oder bereits fortgeschrittenem kognitivem Abbau mit täglichem audiologischem Training. Ähnlich wie bei der Physiotherapie üben Betroffene in vier Wochen richtig zuzuhören und exakt zu verstehen – und das mit dem Hörgerät. Das Prinzip: Mit einem 3D-Lautsprecher um den Hals und einem Tablet werden zu Hause die kognitiven Fähigkeiten trainiert, die für das Hören wichtig sind: Sprachverstehen, Richtungshören, Merkfähigkeit, Konzentration, selektives Hören und akustische Wahrnehmung. Erste Ergebnisse dieser neuen Methode klingen vielversprechend.
Einsatz im Alltag
Wer erstmals ein Hörgerät nutzt, sollte wissen: Er nimmt nicht nur wieder aktiver am Leben teil, weil er seine Umgebung besser wahrnimmt, sondern reduziert automatisch und unbewusst auch seine eigene Lautstärke beim Sprechen, weil er sich selbst ja viel deutlicher hört als davor. Das können und sollten ihm Gesprächspartner auch mitteilen, damit die Kommunikation auf beiden Seiten gleichermaßen gut funktioniert. Ein modernes Hörgerät bietet neben der Klangverstärkung unterschiedliche Einstellmöglichkeiten zur Filterung störender Neben- und Hintergrundgeräusche. Darüber hinaus können smarte Geräte miteinander verknüpft werden, sodass Telefonate, Fernsehen, Musik hören oder Synchron-Übersetzungen auf direktem Weg gelingen. Oder es lassen sich Zusatz-Apps auf dem Handy installieren, mit deren Unterstützung vielseitige Gesundheitsprogramme wahrgenommen werden können – so etwa ein individuell einstellbarer Tagesschrittzähler oder eine automatische Kontrolle und Überwachung vorab eingestellter (Schall-)grenzwerte.
Info
Noch bis 8. September veranstaltet das Freiburger Museum für Neue Kunst unter dem Titel „Anders hören“ eine interaktive Ausstellung, die der Frage nachgeht, ob Hören nur mit den Ohren möglich ist oder welche weiteren Wege und Facetten Sprache, Musik und Klänge noch bereithalten. Ein Klanglabor bietet mannigfaltige Gelegenheit zum Experimentieren.
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