Abhängig von einem Zettel: Eine Betroffene spricht über ihre Entscheidung, kein Kind zu bekommen STADTGEPLAUDER | 23.11.2018 | Isabel Barquero

Mit 17 Jahren erfuhr Giovanna von ihrer Schwangerschaft. Für sie stand schnell fest: Ich möchte das Kind nicht behalten. Im chilli-Interview mit Volontärin Isabel Barquero erzählt die Anfang 30-Jährige, die ihren Nachnamen und Wohnort nicht preisgeben möchte, von ihren Erlebnissen, warum die Pflichtberatung für sie der Horror war und warum der Papst ihrer Meinung nach einfach mal schweigen sollte.

chilli: Wie war es für Sie, als Ihr Gynäkologe bestätigte, dass Sie schwanger sind?

Giovanna: In der Praxis selbst verlief alles distanziert und zugleich selbstverständlich. Nach der Diagnose erhielt ich einen Zettel mit der Adresse für eine Schwangerschaftskonfliktberatung und für einen Arzt in der Nachbarschaft, der Abbrüche vornimmt. Gefasst und mechanisch ging ich zu Fuß zu meinen Eltern und fiel meinem Vater in die Arme. Dann erst erreichte mich die Tatsache und ich ließ mich endlich fallen. Die Entscheidung des Abbruchs stand von der ersten Minute zweifelsfrei fest. Die Sorge einer späteren Reue bestand zu keinem Zeitpunkt.

chilli: Warum kam eine Schwangerschaft nicht in Frage?

Giovanna: Die Antwort ist sehr komplex. Kurz gesagt, ich hatte keine medizinische Indikation, sondern eine soziale.

chilli: Frauen sind in Deutschland gesetzlich dazu verpflichtet, bei einem möglichen Schwangerschaftsabbruch ein Beratungsgespräch wahrzunehmen. Wie war dieses Gespräch für Sie?

Giovanna: Das Beratungsgespräch empfand ich als eine Zwangsberatung, die ich ertragen muss. Für mich war von Anfang an klar, dass ich abbrechen werde, und dennoch wurde versucht, mich von Alternativen zu überzeugen. Die Optionen waren alle mit Geldversprechungen verbunden. Als ob das mickrige Kindergeld und ein StarterKit alles ist, was es braucht. Das ist eine Unverschämtheit, ein Betrug an allen dort überredeten Müttern gewesen. Jahre später erfuhr ich, dass es unterschiedliche Beratungskonzepte gibt und nicht allen Konfliktberatungsstellen so aggressiv sind wie meine.

»Das ist erschreckend«

chilli: Wurden Sie von Ihrem Gynäkologen unterstützt?

Giovanna: Mein damaliger Frauenarzt war keine Ansprechperson für mich. Er bot sich nicht an. Aber das möchte ich ihm auch nicht vorwerfen. Er hatte damals einen Todesfall in seiner Kleinfamilie. Ich denke, er hatte nicht die Kraft für mich. Das war nicht schlimm für mich, die Aufgabe haben andere übernommen.

chilli: Heutzutage kann sich jeder im Internet über Schwangerschaftsabbrüche informieren. Es gibt aber auch viele Hetzseiten mit teilweise schockierenden Bildern. Haben Sie auch online recherchiert?

Giovanna: Damals stand das Internet noch am Anfang. Umso mehr war ich abhängig von dem handgeschriebenen Zettel. Das ist erschreckend. Ich hatte Glück mit meinem Gynäkologen. Meine Freundinnen hatten schreckliche Frauenärzte und sind von ihnen sogar traumatisiert worden. Wir brauchen unbedingt freien Zugang zu Informationen.

chilli: Frauenärzte dürfen auf ihren Webseiten nicht angeben, dass sie Abbrüche vornehmen. Wie schwer ist es für Frauen, einen geeigneten Mediziner zu finden?

Giovanna: Sehr schwer. Ich hatte nur diese eine Adresse bekommen, hatte also keine Wahloption. Ich war darauf angewiesen, dass dieser Arzt kompetent und wohlwollend war. Das ist bis heute nicht selbstverständlich. Ich kenne eine Frau, die 20 Jahre vor mir einen Abbruch machen ließ. Ihr Arzt hat die Narkose verweigert, weil er wollte, dass sie mitbekommt, was sie da anstellt. Das ist massiv brutal und inakzeptabel. Eine Freundin hatte vor wenigen Jahren einen Abbruch. Sie wusste, dass der Arzt sie abwertend behandeln wird. Trotzdem ging sie hin und blieb defensiv, weil er der Einzige im Umkreis war.

»Es gab keine Verurteilung «

chilli: Wo wurde letztlich Ihr Abbruch durchgeführt?

Giovanna: Ich hatte einen tollen Gynäkologen in einer Großstadt. Er führte mit mir Gespräche, erklärte mir den Ablauf. Alle waren warmherzig, aufmerksam. Es gab keine Eile, keine Verurteilung. Es war sehr angenehm und eine schöne Erfahrung, akzeptiert zu sein. Mein Vater begleitete mich. Er war mein Fixstern, sodass ich mich voll und ganz auf mich konzentrieren konnte und jederzeit in Sicherheit war.

chilli: Wie haben Sie sich danach gefühlt?

Giovanna: Befreit. Leicht. Stolz. Müde. Ich habe die ersten Tage danach bei meinen Eltern verbracht. Meine Mutter hat mir einen Schutzraum aufgebaut und alles und jeden von mir abgeschirmt. Das tat unheimlich gut und war eine Liebe, an der ich mich labte.

chilli: Bekamen Sie weitere Unterstützung in dieser schweren Zeit?

Giovanna: Von meinem damaligen Partner war keine Unterstützung zu erwarten. Im Gegenteil, er forderte von mir ein, ihn mitzutragen. Das war sehr vergiftend. Ein enger Freund war überraschenderweise für mich und meine Gefühle da; das werde ich ihm nie vergessen. Vor allem aber standen mir meine Eltern und meine Schwester jederzeit zur Seite und begleiteten mich auf dem Weg. Sie haben mir Kraft und die nötige Ruhe gegeben.

chilli: Würden Sie wieder so entscheiden?

Giovanna: Du steigst in deinem Leben nie in denselben Fluss. Jede Entscheidung gilt für dein Ich im Moment. Wie ich heute entscheiden würde, steht in keinem Verhältnis zu damals. Ich kann meine Entscheidung immer noch nachvollziehen.

chilli: Wie offen gehen Sie mittlerweile damit um?

Giovanna: Heute akzeptiere ich nicht mehr, schweigen zu müssen. 2016 nahm ich deswegen an dem Dokumentarfilm „Nicht Mutter“ von Kim Münster teil. Sie hat in einem großartig einfühlsamen Film Betroffene sprechen lassen. Auf diesen Beitrag bin ich sehr stolz, und die Zusammenarbeit mit Kim war auch emotional sehr bereichernd.

»Von mir aus kann er beten gehen«

chilli: Aktuell wird viel zu dem Thema diskutiert, auch politisch.

Giovanna: Es freut mich, dass sich die Kämpferinnen unserer Zeit nicht einschüchtern lassen. Diese feministische Bewegung ist nicht mehr aufzuhalten. Jede einzelne Person, die sich im privaten oder öffentlichen Raum für das Recht auf sicheren und selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch einsetzt, hält mir und allen Betroffenen die Hand; und das gibt mir den Mut, dieses Interview zu führen.

chilli: Auch Papst Franziskus hat sich eingemischt …

Giovanna: Das Christentum hat in dieser Debatte nichts verloren. Ferner ist der Papst auch nur ein Mann und sollte sich verhalten, wie sich Männer in dieser Debatte zu verhalten haben: schweigend und zuhörend. Von mir aus kann er beten gehen, aber bitte mit geschlossenen Lippen.

chilli: Was raten Sie betroffenen Frauen?

Giovanna: Nimm dir so viel Zeit, wie du dir in deinem Alltag nehmen kannst. Umgebe dich mit Menschen, die an deiner Seite stehen wollen. Die dir deine Entscheidung nicht abnehmen wollen, sondern zuhören und dich begleiten, egal wie viel Zickzack du laufen wirst. Da, wo du gerade stehst, standen wir alle. Weine, denn wir haben alle geweint. Wenn niemand in deiner Nähe geeignet ist, dich zu unterstützen, dann gehe nach draußen. Da sind Menschen, die helfen können. Sprich sie an, das Hilfetelefon, das Frauenhaus, Aktionsgruppen. Auch wenn es sich danach anfühlt: Du bist nicht die Erste, du wirst nicht die Letzte sein und vor allem brauchst du niemals allein sein.

INFO

In der Doku „Nicht Mutter“ berichten Frauen über ihre Schwangerschaftsabbrüche – auch Giovanna. Den kostenpflichtigen Streamen gibt’s hier:

Foto: © iStock.com/milanvirijevic

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