Kampf dem Schilderwahn: Wie sinnvoll ist Tempo 30 für Freiburg? STADTGEPLAUDER | 25.02.2021 | Till Neumann

Straße in Freiburg

Anfang Dezember hatte sich Oberbürgermeister Martin Horn in einem Videostatement und einem Brief an Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer gewandt. Er bittet darum, Tempo 30 in Freiburg als neuen Standard zu testen. Freiburg wäre die erste Stadt Deutschlands für den Modellversuch. Viele Autofahrer reagierten erbost. Das chilli hat Experten gefragt: Wie sinnvoll ist so ein Versuch?

„Für so nen Schwachsinn wurden Sie sicher nicht gewählt!!!“ So lautet einer von mehr als 1000 Kommentaren unter dem Facebook-Video des Oberbürgermeisters. Wenig angetan zeigt man sich auch beim ADAC Südbaden. „Eine ideologische Brechstange für Verkehrspolitik“ sei das, so Vorstandsmitglied Alfred Haas. Zudem „halbherzig vorgetragen“. Den gleichen Vorwurf macht er Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann, der Horns Vorstoß unterstützt. „Tempo 30 ist viel sicherer als Tempo 50“, ließ sich Hermann in einer Pressemitteilung des Rathauses zitieren.

„Halbherzig vorgetragen“

Haas stellt klar, dass der ADAC gegen einen zweijährigen Modellversuch für flächendeckendes Tempo 30 ist. Weder für die Sicherheit noch für die Umwelt oder den Verkehrsfluss sei das von Vorteil. Hauptgrund ist für ihn der Ausweichverkehr: „Vom ADAC untersuchte Modelle in Berlin haben gezeigt, dass sich insbesondere Ausweich- und Schleichverkehre durch sensible Wohngebiete sehr negativ ausgewirkt haben.“ Auch der Ausstoß von Stickoxiden und CO2 sei bei Tempo 30 nicht geringer geworden.

Zahlreich: Die Tempo-30-Zonen in Freiburg (Stand 21.1.2021)

Horn hält dagegen: Die Regelung hätte „einen immensen Vorteil für uns alle“, erklärt er im Video. Weniger Straßenschilder würden auch Autofahrern zugutekommen. Er steht für sein Video in einer 30er-Zone, im Umkreis von 200 Metern gebe es dort vier verschiedene Temporegelungen: „Da blickt keiner mehr durch.“ Horn betont, dass es auch im Modellversuch Straßen mit 50, 70, 80 oder 100 Stundenkilometer-Limits gebe. Diese würden mit Schildern gekennzeichnet. Durch die Änderung könne man in Freiburg „wahrscheinlich über 1000 Schilder entfernen“.

VAG sieht Tempo 30 entspannt

Beim Schilderwahn gibt ihm Alfred Haas vom ADAC recht. „Das ist ein wirkliches Durcheinander in der Stadt, es gibt viel zu viele Schilder.“ Dennoch würde er höchstens eine einheitliche Tempo-30-Regelung in Wohngebieten begrüßen. Auf großen Straßen müssten weiterhin „intelligente Lösungen“ her, Entscheidungen von Fall zu Fall.

Fahrrad-Club-Sprecher: Frank Borsch

Für Freiburger Verkehrs AG (VAG) wäre Tempo 30 jedenfalls kein echtes Problem: „Das Stadtbahnsystem wäre von flächendeckendem Tempo 30 nur in sehr wenigen Bereichen betroffen, zumal Tempo 30 auf separatem Gleiskörper nicht gilt“, sagt Sprecher Andreas Hildebrandt. Die Busse könnten in den meisten Fällen heute schon nicht schneller fahren. Auch hier würde die VAG allenfalls nur sehr geringe Auswirkungen erwarten. Die bestehenden Fahrpläne könnten überwiegend aufrecht erhalten werden. Hildebrandt fasst zusammen: „Eine flächendeckende Einführung von Tempo 30 in Freiburg hätte auf die Verkehre der VAG keine wesentlichen Auswirkungen.“

Begeistert ist die Freiburger Gruppe des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs ADFC. „Wir finden das super“, sagt Pressesprecher Frank Borsch. Zentrales Argument ist für ihn die Sicherheit: „Das ist ein ganz anderes Level für Radfahrer bei weniger Geschwindigkeit.“ Dass der Punkt umstritten ist, führt Borsch zu einer einfachen Antwort: „Dann müssen wir es testen.“ Schließlich sei so ein Versuch großflächig und langfristig nie gemacht worden.

„Flüssigmacher für den Verkehr“

Borsch sieht viele weitere Vorteile: Zum einen sei der Modellversuch „spottbillig“. Zum anderen gewinne ganz Freiburg: „Alles, was nicht tonnenweise durch die Stadt fährt, nutzt der Lebensqualität.“ Auch Autofahrer würden profitieren. Schließlich sei jeder mal mit dem Rad oder zu Fuß unterwegs. Räder sind für ihn „echte Flüssigmacher für den Verkehr“.

Chronik: An diesen Stellen hat Freiburg seit 2018 Tempo 30 bekommen (Quelle: Rathaus Freiburg).

Mit mehr Distanz schaut Peter Wagner auf die Debatte. Der Verkehrsforscher des DLR Instituts für Verkehrssystemtechnik (und der Technischen Universität Berlin) befasst sich mit Verkehrsflüssen. Den Ansatz, Schilder zu reduzieren, begrüßt er. „Komplexität rauszunehmen, ist sicher eine gute Idee.“ Tempo 30 sei deswegen aber nicht zwingend gut. Wagner sieht Vor- und Nachteile: Die Fahrtdauer für Autos verlängere sich. Dafür sinke der Schadstoffausstoß. Auch die Schwere der Unfälle sinke. „Selbst Hardcore-Autofahrer müssen das zugeben“, sagt der 61-Jährige. Schwierig sei jedoch die Frage, ob es tatsächlich weniger Unfälle gäbe.

„Wenn überhaupt, dann in Freiburg“

Das zeigen auch die Gegensätze bei ADAC und Umweltbundesamt. Im Pro-und-Contra-Papier des Autoclubs heißt es: „Auf Hauptverkehrsstraßen haben vor allem die bauliche Gestaltung und signaltechnische Steuerung der Knotenpunkte entscheidenden Einfluss auf die Verkehrssicherheit.“ Das Umweltbundesamt wiederum schreibt zu Tempo 30 auf Hauptverkehrsstraßen: „Unfallzahl und Unfallschwere nehmen schon wegen der physikalischen Zusammenhänge grundsätzlich mit steigenden Geschwindigkeiten zu.“ Reaktionsweg und Bremsweg seien die entscheidenden Faktoren. Es gebe jedoch wenige empirische Untersuchungen. Eine abschließende Beurteilung sei daraus noch nicht ableitbar.

Verkehrsforscher: Peter Wagner

Auch in Sachen Ausweichverkehr widerspricht Verkehrsforscher Wagner dem ADAC: „Es wird passieren, aber ich denke, der Effekt ist nicht so groß. Durch das Rechts vor Links, parkende Autos und sonstige Hindernisse überlege man sich zweimal, ob man wirklich ins Wohngebiet ausweiche.

Mit Blick auf alle Pros und Contras plädiert der Forscher für den Modellversuch. Für Autofahrer sei das zwar ungünstig, am Ende jedoch eine Interessensabwägung. „Ich würde sagen: Ja, probiert’s“, resümiert Wagner. „Wenn überhaupt, dann in Freiburg.“

Horn wartet indes auf Antwort vom Bundesverkehrsministerium. Dort hat man jedoch schon durchklingetn lassen, dass ein Modellversuch schwierig sei. Nach derzeitigem Stand. Im Thema ist aber Bewegung. Nach Horns Vorstoß fordert die Linke in Leipzig denselben Versuch für ihre Stadt. Gleiches wollen die Grünen in München erreichen, was für Turbulenzen sorgt. Und in Niedersachsen wurde ein Vorhaben für Tempo-30-Test-Straßen gerade gestoppt. Der kuriose Grund: Die Gemeinden haben zu viele Vorschläge eingereicht.

Ärger über Alleingang

Auch für die Freien Wähler in Freiburg ist Horns Vorschlag ein Ärgernis, wie sie verlauten lassen. Schon im März hatte die Fraktion den OB wegen Tempo 40 angeschrieben. Sie wollten wissen, „ob die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Einführung einer in der gesamten Stadt geltenden Geschwindigkeitsvorgabe und Höchstgeschwindigkeit von 40 km/h bestehen“. Die Antwort sei „Nein“ gewesen. Und dann kam plötzlich der Tempo-30-Vorstoß des OB – ein „erneuter Alleingang des Oberbürgermeisters zu einem Thema mit weitreichender Bedeutung“.

ADAC-Experte: Alfred Haas

In Freiburg geht derweil die Drosselung weiter – auch ohne Modellversuch. Seit dem 18. Januar gilt auf einem Abschnitt der Lehener Straße ganztägig Tempo 30. Zuletzt sind zudem auch die B31, die Eschholzstraße und die Zähringer Straße zeitweise oder durchgehend limitiert worden. Allein acht neue Fahrradstraßen mit Tempo 30 sind 2020 angelegt worden. Ab dem 3. März 2021 ist auch die Rempartstraße eine solche verkehrsberuhigte Zone. Auch international tut sich viel: Das Pariser Rathaus will flächendeckendes Tempo schon in Kürze umsetzen. Brüssel hat es am 1. Januar bereits getan. In Frankfurt und Stuttgart gelten mittlerweile großflächige Tempo– 40-Zonen. Auch der Deutsche Städtetag plädiert seit Jahren für Tempo 30.

In puncto Verkehrssicherheit scheint das Limit sinnvoll. So hat das Bundesverkehrsministerium gerade auf eine Grünen-Anfrage verlauten lassen, dass Tempo-30-Zonen nachweislich Kinder schützen. 80 Prozent der Innerorts-Unfälle mit Kindern unter 14 Jahren seien 2019 in Straßen passiert, die mehr als Tempo 30 zulassen.

Fotos: © Till Neumann, Kai-Uwe Wudtke, privat

Ist 30 das neue 50? Die umstrittene Ausweitung der Tempolimits in Freiburg