Kontrovers (1): Wie sinnvoll ist mehr Videoüberwachung? Kontrovers | 20.02.2021 | Sergio Pax, Franz Semling

Kontrovers – Überwachungskamera

Die Videoüberwachung des öffentlichen Raums ist immer ein Streitthema. Auch in Freiburg, wo nun schon seit einem Jahr 16 neue Kameras hängen. Die Ausweitung der Videoüberwachungszone umfasst die Bereiche des „Bermudadreiecks“ sowie die untere Bertoldstraße zwischen Theater und Stadtbahnbrücke. Geplant ist das – zwischen 22 und 6 Uhr – schon lange. Wegen Corona und nächtlichen Ausgangssperren fehlt derzeit aber die Rechtsgrundlage zum Scharfschalten. In unserer neuen Rubrik „KONTROvers“ argumentieren jeweils Protagonisten aus zwei Lagern.

„Irrationale Ängste“

Warum Sergio Pax noch mehr big brother falsch findet

Sergio Pax

Sergio Pax, Stadtrat, stellvertretender Vorsitzender der JUPI-Fraktion im Rathaus

Wir als JUPI Fraktion im Freiburger Gemeinderat verurteilen die Anbringung der Überwachungskameras in der Freiburger Innenstadt. Für eine offene und freie Gesellschaft sind Bürgerrechte essenziell. Jede Bürgerin und jeder Bürger Freiburgs hat ein Recht auf Privatsphäre und dies gilt auch im öffentlichen Raum. Dieses Grundrecht wird durch die Überwachung in Teilen der Innenstadt nun zugunsten von einer vermeintlichen Sicherheitsutopie eingeschränkt. Ich sage bewusst vermeintlich, denn die Wirksamkeit von Überwachungskameras, um schwere Straftaten zu verhindern, ist wissenschaftlich umstritten. Einzig sicher ist, dass die Aufklärung von solchen in Einzelfällen durch Videoüberwachung verbessert werden kann.

Doch Strafverfolgung ist ein sensibles Thema, an diesem Punkt sehen wir den Eingriff in die individuellen Freiheitsrechte durch die Polizei nicht gedeckt von dem erhofften Effekt auf eine bessere Sicherheitslage. Freiburg ist statistisch gesehen eine sichere Stadt. Auch wenn jede Straftat eine zu viel ist, bleibt die Wahrscheinlichkeit, hier Opfer eines Verbrechens zu werden, sehr gering.

Dieses Auseinanderklaffen von statistischen Zahlen und gefühlter Realität sollte wieder mehr im Fokus kommunalpolitischer Anstrengungen stehen. Denn eine Gesellschaft ohne Kriminalität ist eine konservative Utopie und ein gängiges populistisches Wahlversprechen. Wir würden uns hier von den selbsternannten Retter*innen des Rechtsstaates mehr Ehrlichkeit wünschen.

Ein Blick in die Kriminalitätsstatistik zeigt, in den letzten zehn Jahren gab es immer wieder Jahre mit mehr und auch mit weniger Straftaten. Zu einem Rechtsstaat gehört auch elementar die Unschuldsvermutung dazu. Mit einer flächendeckenden Überwachung wird erstmal jede*r, der sich in dem Sichtfeld der Kameras bewegt, als potenziell Verdächtigte*r geführt. Dies ist mit unserem Begriff eines liberalen Rechtsstaates nicht vereinbar.

Gegen Ängste hilft nur Aufklärung. Diese Aufklärung erreicht der Staat allerdings nicht, wenn er kontinuierlich auf repressive Maßnahmen setzt. Denn so bestätigt er die oft irrationalen Ängste vieler unserer Mitbürger*innen, anstatt diese durch einen Abgleich mit der faktischen Realität zu zerstreuen. Eine verantwortungsbewusste Politik muss die Motive für kriminelles Handeln in den Fokus nehmen.

Videoüberwachung ist teuer, die Gelder, die hier ausgegeben werden, wären in Maßnahmen, die nachhaltig kriminelle Karrieren verhindern können, wie Sozialarbeit, der Prävention von Armut und besserer Bildungsangebote, weitaus sinnvoller angelegt.

„Baustein guter Arbeit“

Warum Polizeichef Franz Semling mehr video sinnvoll findet

Franz Semling

Franz Semling, seit 1. April 2019 Leiter des Freiburger Polizeipräsidiums

Manches Pro beginnt mit einem Nein. Manchmal sogar mit drei Nein. Nein, die Videoüberwachung ist kein Allheilmittel der Kriminalitätsbekämpfung, sie ersetzt nicht die klassische Polizeiarbeit mit Präsenz und Ermittlungen. Nein, Videoüberwachung brauchen wir nicht in jeder Straße. Denn Freiburg ist eine sichere Stadt. Sie hat, wie andere Großstädte auch, eine höhere Kriminalitätsbelastung als andere Teile des Landes, aber viele registrierte Straftaten werden nicht im öffentlichen Raum verübt. Und nochmals nein, Videoüberwachung wird auch nicht dazu führen, dass sich jede Person von der Anwesenheit der Kameras abschrecken lässt und sich gesetzestreu verhält.

Aber Videoüberwachung ist ein Baustein moderner Polizeiarbeit. Die Videotechnik hat sich qualitativ weiterentwickelt und liefert hochauflösende Bilder, die einen genauen Blick in die Straße ermöglichen. Vorbei sind die Zeiten grobkörniger Schwarzweißbilder, auf denen kaum etwas zu erkennen ist. Deshalb können wir mit der Videoüberwachung dorthin blicken, wo Freiburg eben noch nicht so sicher ist, wie sich das die Bürgerinnen und Bürger und die Polizei wünschen. Zu bestimmten Zeiten schauen unsere Kolleginnen und Kollegen im Lagezentrum auf die Bildschirme und können sehen, wo sich Schlägereien anbahnen oder welche Menschen sich aggressiv verhalten. Sie können so die Einsatzkräfte dorthin lotsen, wo es gerade „brennt“.

Videoüberwachung ist kein Instrument eines Überwachungsstaats, sondern ein Hilfsmittel der Polizei, um einen Bereich, in dem sie mit Einsatzkräften präsent ist, besser zu überblicken. Der Blick von „oben“ hilft uns, Gefahren besser zu erkennen und schneller bei den Menschen zu sein, die unsere Hilfe brauchen. Nur an Kriminalitätsbrennpunkten und nur zu den Zeiten, in denen es wirklich notwendig ist, brauchen wir die Videoüberwachung. Bei uns in Freiburg sind es das „Bermudadreieck“ und die „Untere Bertoldstraße“, die mit überproportional vielen Straftaten, insbesondere Gewalttaten, auffallen. An diesen beiden Orten und nur in den Brennpunktzeiten am Wochenende wollen wir Videokameras einschalten, wenn die Pandemie den Gastronomiebetrieb wieder zulässt und damit erfahrungsgemäß auch die Straftaten zurückkehren. Es wäre den Menschen in dieser Stadt kaum vermittelbar, dass die Polizei auf moderne Technik verzichtet, die sie in ihrer Arbeit unterstützt. In dem von uns geplanten Umfang hat die Videoüberwachung nichts mit einer anonymen Kontrolle zu tun, sondern ist Bestandteil moderner Polizeiarbeit im Dienste der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger.

KontroVers

In der Reihe „KontroVers“ beleuchtet das Freiburger chilli-Magazin seit Febuar 2021 umstrittene Themen in und aus Freiburg. Gastautor:innen aus der Stadt nehmen dazu Stellung – mit einem Pro und einem Contra, so zeigen sie verschiedene Perspektiven und geben Denkanstöße. „KontroVers“ erscheint monatlich im Printmagazin, die Beiträge werden danach auch online veröffentlicht.

Fotos: © Michael Bamberger; Felix Groteloh; PP Freiburg