Fassungslos, begeistert, berührt: Das sind die Bücher des Jahres von Freiburger Autor·innen 4Literatur & Kolumnen | 30.12.2022 | chilli

Ein Ehepaar auf dem Sofa am Lesen

Auf unseren Literaturseiten haben wir die Rubrik FREZI, in der wir die Werke Freiburger Autoren rezensieren. Zu Weihnachten aber durften diese nun selber ihre Lieblingsbücher vorstellen. Lesetipps von Profis.

Letzte Chance für Last Generation

Es ist der letzte Tag vor dem Weltuntergang in Köln. Sieben Menschen, von denen jeder eine der Todsünden verkörpert, erhalten noch einmal Besuch von Ludwig, einem gemeinsamen Bekannten, und bekommen eine letzte Chance, ihre Schuld zu tilgen. In dem Moment, wo man kapiert, um wen es sich bei Ludwig sowie dem rauchenden, blonden Mann von der Tankstelle wirklich handelt, fängt man gleich noch einmal von vorne zu lesen an, so clever ist das alles konstruiert.

Ein philosophischer Roman voller kluger Anspielungen und einem unschlagbar-lässigen Humor. Mein Lieblingssatz: „Sag Dr. Haussmann zu mir.“

Marc Hofmann

Marc Hofmann

Stefan Suchanka: Unser letzter Tag.
In sieben Sünden zum Weltuntergang
Kirschbuch 2021
242 Seiten, Taschenbuch
12 Euro

Marc Hofmann ist Lehrer, Autor, Kabarettist und Musiker in Freiburg. Im kommenden Jahr erscheinen zwei neue Bücher von ihm.

Foto: © Britt Schilling

 

Großer kleiner Lebenskosmos

Bis vor kurzem kannten hierzulande allenfalls Leute, die sich mehr als 1000 Seiten eleganter englischer Prosa im Original zutrauen, den berühmtesten britischen Roman aller Zeiten. Es handelt sich weder um Emily Brontës „Sturmhöhe“ oder Jane Austens „Stolz und Vorurteil“, noch um Mary Shelleys „Frankenstein“. Zwar stammt auch „Middlemarch“ von einer Frau, allerdings hat sie sich das männliche Pseudonym George Eliot zugelegt. Er spielt in den grünen Weiten der Midlands, wo Eliot vor unseren Augen einen großen kleinen Lebenskosmos entfaltet, in dem es keine wirklichen Nebenfiguren gibt. Nun liegen gleich zwei Übersetzungen vor. Ich habe vor Begeisterung beide gelesen, bevorzuge aber die flüssigere von Melanie Walz.

Karl-Heinz OttKarl-Heinz Ott

Georg Eliot: Middlemarch
Rowohlt 2021
1264 Seiten, Taschenbuch
20 Euro

Karl-Heinz Ott ist Autor von Romanen sowie philosophischer und musikbiografischer Essays.
Er lebt in Wittnau.

Foto: © Erika Weisser

 

Lektüre mit raketenhaftem Flash

Egal, ob ihr schon einen Plan für die Silvesterverbringung habt oder nicht – lest dieses Buch! Danach werdet ihr ein paar Tage fassungslos durch euer Leben irren und euch fragen, wie es so weit kommen konnte. Was ist das bitte für eine Rakete von einem Debüt-Roman? Wien, 31. Dezember, ein halbes Dutzend Freund:innen wollen das alte Jahr loswerden und das wehrt sich. „Die Möbel sehen aus, als wäre auf jedem schon mal jemand von hinten erwürgt worden […].“

Ich kann mich nicht erinnern, wann mich eine Lektüre das letzte Mal dermaßen geflasht hat. „Steine schmeißen“ ist so sehr Sound und Gegenwart, dass es schmerzt, und beinhaltet mehr gelungene Dialoge als sämtliche Buchpreis-Nominierten zusammen. Bald wird der Quatsch von der „Stimme ihrer Generation“ losgehen, dabei steht doch alles schon geschrieben: „Ich bin immer irgendwo zwischen trickfilminteressiert und Fernseherrunterschmeißen.“

Jess JochimsenJess Jochimsen

Sophia Fritz: Steine schmeißen
Kanon 2021
231 Seiten, gebunden
22 Euro

Jess Jochimsen ist Autor und Kabarettist in Freiburg. Am 27. und 28.12. feiert er sein 30-jähriges Bühnenjubiläum im Vorderhaus.

Foto: © Jess Jochimsen

 

Ohne romantische Schönfärberei

Über drei Generationen begleitet das Buch eine Bergbauernfamilie in Südtirol. Harte Arbeit, Durchhaltevermögen, ein Krieg, der Söhne raubt, eine starke Frau, die den Hof mit zäher Kraft ganz alleine durchbringt, und eine Gegenwart, die vor neue Herausforderungen stellt.

Die Journalistin Jarka Kubsova ist selbst sieben Monate lang in die Berge gezogen, um für ihren ersten Roman zu recherchieren. Sie hat das Leben dort in allen Facetten, frei von Klischees oder romantischer Schönfärberei eingefangen. Der Umgang mit den Tieren, die Zukunft der Landwirtschaft, Nachhaltigkeit, Chancen und Risiken durch den Tourismus, all das spielt in dem Buch eine Rolle und stimmt nachdenklich. Vor allem ist es aber eine spannende, wunderschön geschriebene Geschichte, die mich tief berührt hat.

Anne GriesserAnne Grießer

Jarka Kubsova: Bergland
Goldmann 2021
288 Seiten, Hardcover
20 Euro

Anne Grießer lebt als Autorin und Herausgeberin von Krimi-Anthologien in Freiburg. Sie organisiert den Freiburger Krimipreis; die nächste Preisverleihung ist im Mai 2023.

Foto: © privat

 

Momentaufnahmen kleiner Dinge

Lesen Sie Gedichte? Ich mag Gedichte, weil sie mir Raum geben. Das fängt beim Satzspiegel an und reicht bis zur Musikalität und Mehrdeutigkeit der Worte. Sie haben keine Agenda, wollen nichts anderes sein als poetische Momentaufnahmen und zwingen auch mich in den Moment, in den Augenblick, aus dem mich Gedanken und Aufgaben immer wieder vertreiben.

In den Gedichten des Schweizer Autors Thomas Dütsch geht es um kleine Dinge wie den fallenden Schnee, einen Morgen im April, um Hände und junge Hunde. Es geht um das Altern, Freundschaften, Selbstbildnisse, Glück und Traurigkeit. Philippe Jaccottet sagte: „Wenn wir nicht an die Macht des beinah Unsichtbaren glauben, können wir auch gleich verzweifeln.“ Ich glaube an die Kraft der Worte und nehme mir bei meinem Tun Thomas Dütschs Gedanken oft zu Herzen.

Iris WolffIris Wolff

Thomas Dütsch : Zwischenhoch. Gedichte
Nimbus 2022
84 Seiten, Fadenheftung
20 Euro

Iris Wolff war bis 2018 Koordinatorin des Netzwerks Kulturelle Bildung beim Kulturamt Freiburg und wagte den Schritt in ein Leben als freie Autorin – mit Erfolg.

Foto: © Annette Hauschild

 

Wunderbar bildhafte Sprache

„Herkunft“ ist der dritte Roman von Saša Stanišic, der 1992 als 14-Jähriger mit seinen Eltern vor dem Krieg in Jugoslawien nach Deutschland floh. Hier teilte er das von Sprachbarrieren und Ausgrenzung geprägte Schicksal entwurzelter Migrantenkinder – bis ein Lehrer sein schriftstellerisches Talent erkannte und ihn förderte. In „Herkunft“ schreibt Stanišic über den Vielvölkerstaat, der im Krieg untergeht, und seine Jugend in Deutschland. Besonders eindrücklich schildert er zwei Besuche in seinem bosnischen Heimatdorf, wo er seine am Ende demente Großmutter wiedersieht.

„Herkunft“, ein Buch zwischen Autobiographie und Roman, ist in einer wunderbar bildhaften Sprache geschrieben. Darüber hinaus sensibilisiert es für die Thematik Flucht und Neuanfang, die heute ebenso erschütternd und bedeutsam ist wie vor dreißig Jahren.

Renate KlöppelRenate Klöppel

Saša Stanišic: Herkunft
btb 2020
368 Seiten, Taschenbuch
12 Euro

Renate Klöppel ist Ärztin, Musikerin und Autorin der ersten Freiburger Regiokrimis. Inzwischen schreibt sie Kinder-Sachbücher.

Foto: © privat

 

Foto (Beitragsbild) : © iStock.com/Cecilie_Arcurs