Spuren des Lebens: Deutsches Tagebucharchiv in Emmendingen Kultur | 23.02.2020 | Hans-Jürgen Truöl

Tagebucharchiv

Mit seinem Deutschen Tagebucharchiv besitzt Emmendingen in der Republik ein Alleinstellungsmerkmal. Kein anderer Ort in Deutschland kann sich „Stadt der Tagebücher“ nennen. Nach dem Umbau öffnet das kleine Museum im Archiv am 2. Februar wieder seine Pforten.

„Wir dokumentieren das ganze Spektrum des Lebens und Sterbens“: Mit diesen Worten beschreibt die Vorsitzende des Deutschen Tagebucharchivs, Marlene Kayen, den Fundus, der im Alten Rathaus am Emmendinger Marktplatz gesammelt, transkribiert, dokumentiert und präsentiert wird.

Ungewöhnlich, ja außergewöhnlich ist nicht nur das Sammelgebiet, sondern vor allem die Tatsache, dass das Tagebucharchiv maßgeblich von einer großen Gruppe Ehrenamtlicher getragen wird. Mehrere Dutzend Männer und Frauen haben hier eine sinnvolle Aufgabe in ihrem Ruhestand gefunden – die Beschäftigung mit den Schicksalen anderer Menschen wirkt erfüllend, wühlt auf, erzeugt Anteilnahme und Verständnis für die jüngere Vergangenheit.

600 Vereinsmitglieder, ein engagierter Kern in den Lesegruppen, ein aktiver Vorstand, 20.000 „Ego-Dokumente“ zwischen 1760 und der Gegenwart – und nur eineinhalb bezahlte Stellen für den Geschäftsführer Gerhard Seitz und die wissenschaftliche Mitarbeiterin Jutta Jäger-Schenk. Mit ihrem finanziellen Zuschuss und der mietfreien Überlassung der Räumlichkeiten „tut die Stadt, was sie kann“, lobt Kayen. Auch der Landkreis ist mit einem kleinen Zuschuss im Boot. Land und Bund sparen zwar nicht an Lobeshymnen, zeigen sich in der Frage einer finanziellen Unterstützung für diese immense und so notwendige Gedächtnisaufgabe allerdings bisher zugeknöpft.

Dabei gehört das Deutsche Tagebucharchiv seit 2019 zu den baden-württembergischen „Kulturdenkmälern von besonderer Bedeutung“. Etwa 200 Forschungsanfragen gehen pro Jahr ein, zumeist junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus vielen Ländern betreiben im Leseraum Quellenarbeit. Bücher greifen die Zeitgeschichte von unten auf. Überregionale Medien würdigen das Tagebucharchiv als „kollektives Gedächtnis deutscher Normalzustände“, als „Marbach für Normalsterbliche“.

Als Frauke von Troschke 1998 – inspiriert vom Piccolo Museo del Dario im italienischen Pieve Santo Stefano – die Gründung des Tagebucharchivs in Emmendingen gelang, hatte sie sich dessen Erfolgsgeschichte wohl kaum vorstellen können. Doch mit Tatkraft und Beharrlichkeit gelang es der in der Kreisstadt bestens vernetzten Kommunalpolitikerin, Mitstreiter zu gewinnen. Und mit Unterstützung von Stadtverwaltung und Gemeinderat das repräsentative Barockgebäude im Herzen Emmendingens aus seinem Dornröschenschlaf zu wecken. Vor vier Jahren zog sich Frauke von Troschke als Vorsitzende des Vereins zurück, seitdem leitet Marlene Kayen den Vorstand.

Tagebucharchive Emmendingen

Marlene Kayen ist die Vorsitzende des Deutschen Tagebucharchivs.

Nun, am 2. Februar 2020, kann das Deutsche Tagebucharchiv ein weiteres, ein neues Kapitel aufschlagen: Nach zwei Jahren Umbauzeit ist das 2014 eröffnete kleine Museum im Archiv wieder für die Öffentlichkeit zugänglich. Präsentiert wird eine Auswahl ganz besonderer Tagebücher aus mehreren Jahrhunderten unter dem Motto „Lebenslust – Lebenslast – Lebenskunst“.

Junge Frauen vertrauen ihrem Tagebuch Liebessehnsüchte an und himmeln ihre Stars an, Eltern schildern im Detail die ersten Schritte und Worte ihrer Kinder, Soldaten verzweifeln in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs und ahnen ihren nahen Tod. Davongekommene berichten vom Existenzkampf, Heimatvertriebene vom Verlust des Vertrauten und den Mühen, nach 1945 im deutschen Neuland der Nachkriegszeit anzukommen. Nicht nur inhaltlich und thematisch, auch in den Formen und Darstellungen der Tagebücher – von Kurrentschriften des 19. Jahrhunderts bis zu aktuellen E-Mails – zeigt sich das ganz persönliche Leben in den jeweiligen Epochen.

Ungefilterte Schilderungen, dramatische Erlebnisse und akribisch formulierte Eindrücke statt offizieller Verlautbarungen oder geschönter Geschichtsschreibung – das Tagebucharchiv ist eine Schatzkammer voller Schicksale und birgt ganz individuelle Schätze.

Info

Das Deutsche Tagebucharchiv präsentiert am Sonntag, 2. Februar, von 14 bis 17 Uhr die neu gestalteten Museumsräume im Alten Rathaus am Emmendinger Marktplatz mit einer Ausstellung unter dem Motto „Lebenslust – Lebenslast – Lebenskunst“.
Öffnungszeiten:
Di., Mi., Do. 14 bis 16 Uhr
Eintritt: 3 Euro
Anfragen für Archivführungen:
Tel.: 0 76 41/57 46 59
dta@tagebucharchiv.de
www.tagebucharchiv.de

Fotos: © Hans-Jürgen Truöl