Ziviler Ungehorsam: Neues Buch über Widerstandsbiografien im Südwesten Kultur | 20.11.2017 | Erika Weisser

Im Rieselfeld gibt es einen Geschwister-­Scholl-Platz. Der Innenhof der Freiburger Universität heißt Platz der Weißen Rose. Und auch im Freiburger Osten gibt es jetzt einen Ort der Erinnerung an einen jungen Akademiker, der hier zum Umfeld der in München agierenden studentischen Widerstandsgruppe gegen das NS-Terrorregime gehörte: Heinrich Bollinger.

Er wohnte in der Schwarzwaldstraße 98, wo unlängst ein Stolperstein verlegt wurde. In den jüngst von der Landeszentrale für politische Bildung veröffentlichten Widerstandsbiogra­fien aus dem Südwesten wird er als „Kopf der Weißen Rose in Freiburg“ bezeichnet.

Die Herausgeber des Buches werfen die Frage auf, ob dem Begriff des Widerstands außer aktivem Handeln auch eine unangepasste Haltung zuzuordnen, ob schon die Entscheidung, nicht mitzutun, widerständig sei. Angesichts der immer enger werdenden Handlungsspielräume in der etablierten Misstrauensgesellschaft folgern sie, dass dies ein bedenkenswerter Ansatz sei: Allein die Weigerung, sich im Mainstream mittreiben zu lassen, erforderte Mut. Und bestärkte andere Verweigerer in ihrem Verhalten.

Dieser Argumentation folgend, wird nachvollziehbar, dass nicht nur Menschen wie Heinrich Bollinger vorgestellt, dass bei den Widerständigen aus dem Freiburger Raum weder Gertrud Luckner noch Stefan Meier erwähnt werden. Dafür ist die Rede von den „Stenzen von Herdern“, einer zur lokalen Swingjugendszene gehörige Gruppe, deren Mitglieder weiße Schals und längere Haare als normüblich trugen – und zusammen über verbotene ausländische Rundfunksender heimlich Jazz- und andere als entartet verpönte Musik hörten. Oder auch selbst spielten, wie etwa der Schüler Rudi Schmaltz.

Ein Beitrag setzt sich mit der Rolle des Schriftstellers Reinhold Schneider auseinander, den die Diktatur in die „innere Emigration“ zwang. Der tiefgläubige Katholik, der sich eine religiös begründete Dis­tanz zu der herrschenden Ideologie und Politik bewahrte, wird zu den Verteidigern geistiger Freiräume gezählt: Seine 1938 erschienene Erzählung „Las Casas vor Karl V.“ lasse sich, schreibt Angela Borgstedt, „als Kritik an der NS-Judenpolitik lesen“ und sei somit als Akt des Zuwiderhandelns zu werten, der ausgestrahlt habe.

Die Lektüre der Werke Reinhold Schneiders gehörte zum Leseprogramm der Mitglieder der „Weißen Rose“. Doch nicht nur darüber kam Heinrich Bollinger mit ihm in Berührung: Nach Erkenntnissen des Freiburger Historikers Hugo Ott, der den späteren Psychologie-Professor persönlich kannte, trafen sie (und Walter Dirks) sich wiederholt bei einer „Altargemeinschaft für aufgeschlossene Katholiken“ in der direkt neben Bollingers Wohnhaus gelegenen St.-Carolus-Kapelle. Bis Bollinger 1943 als „Volksschädling“ ins Zuchthaus kam. Und ihm sein im Jahr zuvor erworbener Philosophie-Doktortitel aberkannt wurde.

Mut bewiesen.
Widerstandsbiografien aus dem Südwesten

Angela Borgstedt, Sibylle Thelen, Reinhold Weber (Hrsg.)
W. Kohlhammer 2017
526 Seiten, Broschur
Preis:
6,50 Euro zzgl. 3 Euro Versand
www.lpb-bw.de/publikation3300

Foto: © Erika Weisser