Auf den Spuren von Marie Luise Kaschnitz in Bollschweil Land & Leute | 28.09.2021 | Hans Jürgen Truöl

Sitz der Familie Holzing-Berstett Die Tour startet am Schloss Bollschweil, dem Sitz der Familie Holzing-Berstett.

Der kleine Ort Bollschweil war ihre „Herzkammer der Heimat“: Die Dichterin Marie Luise Kaschnitz hat mit der „Beschreibung eines Dorfes“ der Gemeinde am südlichen Ausgang des Hexentals zu literarischer Berühmtheit verholfen. Eine Spurensuche.

Bollschweil liegt idyllisch am Ufer der Möhlin zwischen den waldreichen Bergen des Schwarzwalds und dem rebenbestückten Ölberg. Reizvoll ist der Besuch allemal, wirklich spannend ist ein Rundgang auf den Spuren der Dichterin Marie Luise Kaschnitz (1901–1974). Im Dorf kennt sie jedes Kind, denn seit 2004 trägt die Grundschule ihren Namen. Ältere Dorfbewohner können von Begegnungen mit MLK erzählen, wie sie manchmal genannt wurde, die ihr Leben lang, manchmal für Monate, immer wieder nach Bollschweil zurückkehrte. Die Erinnerung an Kaschnitz wird im Dorf hochgehalten. Seit 1967 ist sie Ehrenbürgerin der Gemeinde, auf dem Friedhof fand sie 1974 ihre letzte Ruhestätte. 

Der Friedhof ist der letzte Punkt eines Dorfrundgangs, dessen Marschrichtung ein Leitfaden des Arbeitskreises der Lokalen Agenda Bollschweil 21vorgibt. Grundlage ist die „Beschreibung eines Dorfes“, dieses fulminante Prosawerk, mit dem die Büchner-Preisträgerin die Öffentlichkeit 1966 überraschte. Statt leicht lesbarer Heimatprosa oder einem idyllischen Rückblick schuf sie in 21 Bildern ein genau beobachtetes, merkwürdig in der Zeit hängendes Bild von einem Dorf, dessen Zukunft offen ist. „Veränderung über Veränderung“ ist das Grundmotiv. 

Wer mit dem Bus anreist, steigt an der Haltestelle „Alte Post“ aus und wandert zum „Schloss“ – Haus Nr. 84 nennt es Kaschnitz in ihrer Beschreibung lapidar, im Plan hat es die Nummer 1. Von Potsdam hatte ihr Vater 1918 hierher den Familiensitz verlegt. Die damals 17-jährige Freiin von Holzing-Berstett, so ihr Familienname, war vom Umzug in die Provinz nicht begeistert. Schnell suchte sie den Absprung: Nach dem Abitur machte sie eine Buchhändlerlehre in Weimar, arbeitete in München und in Rom, wo sie ihre große Liebe traf, den Archäologen Guido Kaschnitz von Weinberg. Sie folgte ihm auf seinen Reisen und 1941 nach Frankfurt, wo er einen Lehrstuhl übernahm. 

Braut im Pelzmantel

Das Schloss und sein Park sind nicht öffentlich zugänglich, da hier bis heute ein Neffe der Dichterin seinen Wohnsitz hat. So geht es auf der Hexentalstraße zurück ins historische Ortszentrum, an der Schule (4) vorbei zum Neuen Rathaus (5). Dort, im „Kaschnitz-Zimmer“, würdigt eine sehenswerte Dauerausstellung Leben und Wirken der Dichterin. Es ist gleichzeitig das Trauzimmer der Gemeinde. Die Brautpaare blicken, am Kirschbaum-Schreibtisch sitzend, auf ein markantes Porträtfoto der Kaschnitz, das sie als distinguierte Dame mit Perlenkette zeigt, ihrem „Markenzeichen“. Die Doppelnutzung als Museum und Trauzimmer ist sinnreich, denn Marie Luise von Holzing-Berstett selbst hat hier geheiratet. Ein Foto zeigt sie mit dickem Pelzmantel überm Brautkleid beim Gang in die Pfarrkirche auf der anderen Straßenseite – es war kalt im Dezember 1925. 

Die Pfarrkirche (Nr. 6) gegenüber ist schnell erreicht. Lohnend ist ein Blick ins Kirchenschiff mit seinen Nazarener-Gemälden. Auf Kaschnitz’ Spuren geht es weiter an der Hexentalstraße entlang, am Pfarrgarten (Nr. 7) vorbei, dann nach rechts zum schmucken Platz mit Milchhüsli (8) sowie dem Alten Rathaus (9), wo Marie Luise Kaschnitz 1967 zur Ehrenbürgerin ernannt wurde. Gegenüber dem Milchhüsli lockt im ehemaligen Stadtschreiberhaus das „Bolando“ zur Einkehr: Das genossenschaftlich organisierte Dorfgasthaus hat sich zu einem regional bekannten Anziehungspunkt entwickelt. Kaschnitz hätte das gefallen. 

Dame mit Perlenkette

Dame mit Perlenkette: das „Markenzeichen“ der Dichterin.

Mit wachen Augen geht’s weiter durchs Dorf Richtung Westen, über die Möhlin zum am Ölbergweg gelegenen Friedhof (Nr. 10). Marie Luise Kaschnitz starb im Oktober 1974 in Rom, wo sie ihre Tochter besucht hatte. Eigentlich wollte sie nach ihrer Romreise wieder nach Frankfurt zurückkehren, zur Buchmesse, und dort einen Vortrag halten, dem sie den Titel „Rettung durch die Phantasie“ gegeben hatte. Im Familiengrab in Bollschweil fand sie die letzte Ruhe, ein Gedenkstein ehrt die Dichterin und ihre „Beschreibung eines Dorfes“ – die auch mehr als 50 Jahre nach Erscheinen nichts von ihrer Aktualität verloren hat.

Info

Lageplan für den Dorfrundgang unter:
www.bollschweil.de

Kaschnitz-Zimmer im neuen Rathaus:
geöffnet zu den Sprechzeiten des Bürgermeisteramts
Tel.: 07663/9510-0

Foto: © Truöl, Stadt Frankfurt a. M.