Herr der Trachten: Sebastian Wehrle im Porträt Land & Leute | 14.08.2024 | Christian Engel
Der „Lichtbildner aus Freiamt“ – so nennt Sebastian Wehrle sein Selbstporträt – ist viel in der Welt herumgekommen.Schöne Momente verlängern, Gegenwärtiges in die Zukunft tragen – das waren Impulse, die Sebastian Wehrle dazu bewegt haben, zur Kamera zu greifen. Heute zeigt der gebürtige Waldkircher seine Fotos auf der ganzen Welt: in New York, Berlin, aber immer wieder auch im heimischen Schwarzwald, der ihm inspirierende Themen liefert für seine Kunst.
Ausgerechnet vom bedeutendsten Moment seines Lebens gibt es keine Aufnahme. Kein Foto. Kein Video. Keine Audiospur. Einzig die Erinnerung von Sebastian Wehrle. Und seine Erzählung. Also basteln wir uns diese Szene mal im Geiste zusammen, mit Hilfe seiner Schilderungen und unserer Fantasie. Möglicher Bildtitel: Kachelofenbauer Sebastian klagt einer Fremden sein Leid.
Die Szenerie: ein Boot auf einem Fluss, irgendwo in Thailand. Der Hintergrund unscheinbar grünes Dickicht zum Beispiel. Zwei Personen lehnen an der Reling: Sebastian und eine Touristin. Vertieft in ein Gespräch. Sebastian, lange Haare, sieht aus wie jemand, der eben inneren Ballast losgeworden ist, erleichtert und zugleich voller Erwartung, in der nächsten Sekunde eine erhellende Antwort zu erhalten. Die fremde Frau ihm gegenüber ist gerade im Begriff, den Mund zu öffnen – und die zwei Worte zu sagen, die das Leben von Sebastian Wehrle in eine neue Richtung bringen werden. In eine Richtung, nach der er sich innerlich lange gesehnt hat – auf einen neuen Weg, der ihn zu einem bekannten (wenn nicht aktuell dem bekanntesten) Fotografen des Schwarzwalds werden lässt.
Verlassen wir das Boot in Thailand und blättern im Lebensfotoalbum von Sebastian Wehrle noch einmal ein paar Seiten zurück, bis fast ganz an den Anfang. Dort sehen wir ihn als Neunjährigen, weißes Hemd, blonder Topfschnitt, blaue Augen, in der Stube seines Zuhauses in Simonswald, wo er mit drei Geschwistern aufwächst. Eben hat er zur Kommunion von Gotti Verena seine erste Kamera bekommen, die er sich so sehnlichst gewünscht hat: eine schwarze Yashica, 35-mm-Kleinbildkamera. Sein Papa hat eine Spiegelreflex, fotografiert hobbymäßig, Landschaften, auf Festen, daheim. Aber diese bekommt Sohn Sebastian nicht allzu oft in die Hand – Kinder lassen Dinge ja gerne mal fallen.
Ein Jungtalent blüht auf
Nun aber das eigene Instrument, um loszuknipsen, um „schöne Momente zu verlängern, Gegenwärtiges in die Zukunft zu tragen“, wie Sebastian Wehrle heute dazu sagt. Also hält er Blumen fest, fotografiert seine Freunde, mit denen er mittags stundenlang auf Bäume klettert, durch den Wald zieht, Feuerchen macht. Selfies wie das im weißen Hemd zur Kommunion kommen zustande, auch wenn das damals noch „Selbstportrait“ heißt. Hauptsache experimentieren – fotografieren ist für ihn früh ein Spiel.
Weil Sebastian Wehrle mit der Yashica bald an Grenzen kommt, erweitert er das Repertoire an Kameras in den Folgejahren (mittlerweile hat er mehr als 60). Als er 19 ist, legt er sich eine digitale Spiegelreflex zu, die ihm nicht nur weitere Möglichkeiten in der Bildgestaltung schafft, sondern auch vermehrt Aufträge. Erst fotografiert er auf Hochzeiten von Freunden, dann auf Ehrentagen von Freunden der Freunde – seine Qualität spricht sich rum im Simonswälder Tal. Die Fotostrecke jener Jahre könnte heißen: Ein Jungtalent blüht auf.
Mit Feuer und Flamme
Und doch ist die Knospe nicht ganz geöffnet. Noch traut er sich nicht, den Deckel dauerhaft vom Objektiv zu nehmen. Es ist das Jahr 2011: Eben hat Sebastian Wehrle seinen Meister als Kachelofenbauer gemacht. Sein Betrieb – Arno Keramik in Auggen – hält große Stücke auf ihn, will Deutschlands besten Kachelofenbauergesellen aus dem Jahr 2003 (den Wettbewerb gibt es heute noch) unbedingt behalten, stellt ihm eine Führungsposition in Aussicht. Und doch flammt da noch etwas anderes in ihm: Er brennt für Kachelöfen, noch mehr aber für die Fotografie. Und genau das erzählt er der Touristin auf dem Boot in Thailand, wo er kurz nach der Meisterprüfung einen mehrwöchigen Urlaub verbringt. „Am liebsten“, sagt er da, als sie an der Reling stehen, „würde ich mich als Fotograf selbstständig machen.“ Und die Touristin, zufällig Psychologin von Beruf, sagt daraufhin diese zwei Worte, die so einfach und doch (oder gerade deshalb) so wirkungsvoll sind: „Warum nicht?“
„Das“, sagt Sebastian Wehrle heute, „war für mich der Moment, in dem ich mich für die Fotografie entschieden habe, mir gesagt habe: Ja, warum eigentlich nicht? Warum soll ich mit dieser Leidenschaft nicht meinen Unterhalt verdienen können.“
Das Glück immer wieder herausgefordert
Dass er heute, 13 Jahre nach dem Aha-Erlebnis in Thailand, eine eigene und gut besuchte Galerie in Freiamt führt (die schon wieder zu klein ist, weswegen er in der Nähe einen Bauernhof gekauft hat, den er bald zu einer Galerie und Werkstätte umbauen will), hätte er zu Beginn seines neuen Weges natürlich niemals geglaubt. Auch nicht, dass seine Fotografien in Ausstellungen auf der ganzen Welt zu sehen sind: in Berlin und Karlsruhe, in Kuala Lumpur und Dubai, in Lahr und Freiburg. Er hätte nicht glauben können, dass seine Werke einmal in Hotellobbys hängen, Fassaden von öffentlichen Gebäuden (wie in Stuttgart oder am Titisee) zieren. Dass er einen Stil schaffen würde, den Betrachter unweigerlich mit ihm in Verbindung bringen (auch wenn sie vielleicht nicht immer den Namen des Fotografen kennen).
Und doch ist all das innerhalb kurzer Zeit wahr geworden. Wie war das möglich?
Sebastian Wehrle sagt, er habe sein Glück immer wieder herausgefordert. Er habe nie mit den Händen in den Hosentaschen dagestanden und auf seine Fotomomente gewartet. „Ich hatte immer Ideen von Motiven im Kopf. Die wollte ich unbedingt umsetzen. Also habe ich so lange ausprobiert, bis sie mir gelungen sind. Auch wenn ich dafür ganz oft scheitern musste.“
Trachtenfrauen mit Tattoo
Blättern wir noch einmal ein bisschen in Sebastian Wehrles virtuellem Fotoalbum. Das Jahr 2013 füllt gleich mehrere Seiten. Fast ein Jahr lang reist er durch die Welt: mit dem Rad von Los Angeles nach Peru, ein paar Wochen auch durch Asien. Natürlich mit Kameras und Objektiven im Gepäck. Drei galoppierende Wildpferde vor einem Vulkan in Ecuador, ein auftauchender Grauwal im Pazifik, ein Mädchen zwischen Licht und Schatten auf den Straßen Mexikos – nur um mal drei seiner Lieblingsfotos aus jener Zeit zu nennen. Aufnahmen der Reise landen in seinen ersten Ausstellungen, die er nach seiner Rückkehr gibt, unter anderem in Lahr. Dort trifft er auf den Kulturschaffenden Uwe Baumann, der Sebastian Wehrle für die Ausstellung „Kosmos Schwarzwald“ gewinnen will. „Er war ein weiterer Türöffner“, sagt Wehrle. Denn auf der „Kosmos“ präsentiert er das, was ihn berühmt machen wird: vier Fotos von gepiercten, geschminkten und tätowierten Trachtenfrauen.
Noch so eine Idee, die er damals schon lange mit sich herumgetragen hat. Trachten kennt er ja aus seiner Heimat, nur ein bisschen mehr Moderne könnte die schöne Tradition vertragen. Also leiht er sich von der Oma seiner Freundin (und heutigen Frau) Sandra eine Tracht, steckt eine Bekannte, Sina Heinrich, hinein, stellt sie vor einen dunklen Hintergrund und fotografiert los. Gut, das klingt zu einfach: Natürlich musste sich das Model zuvor strichgenau schminken lassen, die perfekte Beleuchtung erst gefunden werden. Am Ende aber steht ein gewaltiges Ergebnis, dem ein großes Echo folgt. Sein Fotografengefühl habe ihm nach dem Shooting gesagt, dass dieses Motiv besonders gelungen sei, erzählt Sebastian Wehrle. Und die Betrachter seiner Bilder bestätigen es ihm (bis auf ein paar traditionalistische Nörgler): „Nach der Veröffentlichung der Trachtenbilder stand mein Telefon nicht mehr still.“
An diesen Motiven hält Sebastian Wehrle bis heute fest. Sein Markenzeichen. Ehrlicherweise auch seine Haupteinnahmequelle. Seit zehn Jahren nun. Und doch ist da immer der neunjährige Sebastian in ihm geblieben: der experimentierfreudige, der verspielte. 2018 rückt er Kühe mit Kopfschmuck ins Licht. Immer noch dasselbe Spiel von Tradition und Moderne, nur mit Tieren statt Menschen. Kein leichtes Unterfangen. Sag einer Kuh mal, dass sie stillhalten soll („ein Trick ist, dass sie vor dem Shooting viel zu fressen bekommen hat“). Für ein einzelnes Kuhporträt ist Sebastian Wehrle eine ganze Woche beschäftigt. Aber auch das lohnt sich: Die Aufnahmen seines „Q-Projekts“ verschickt er in die ganze Welt.
Tausend Motive & Ideen
Sebastian Wehrle hat noch tausend Ideen im Kopf, tausend Motive, die er wahr werden lassen will. Manchmal müssen sie auch ein bisschen warten können, aber irgendwann kommen die Ideen ans Licht, auf die Leinwand, in die Galerien dieser Welt. Weil Sebastian Wehrle die Hände nie in die Hosentaschen steckt. Und selbst bei den verrücktesten Vorhaben stets an jene zwei Worte von einer Touristin auf einem Boot irgendwo in Thailand denkt: Warum nicht!
Fotos: © Sebastian Wehrle, Christian Engel