Per Algorithmus zum Bestseller STADTGEPLAUDER | 03.06.2021 | Tanja Senn

Scriptbakery Leichen oder Liebe? Jonas und Géraldine Al-Nemri bringen ihrer Software bei, Gefühle zu erkennen.

Kann Künstliche Intelligenz (KI) Bestseller wie „Harry Potter“ oder „Krieg und Frieden“ erkennen? Jonas und Géraldine Al-Nemri sind sich sicher, dass das funktioniert. Mit ihrem Start-up Scriptbakery wollen sie verhindern, dass potenzielle Bestseller bei Verlagen ungelesen im Papierkorb landen.

Alinea heißt die wichtigste Mitarbeiterin im Team der Scriptbakery. Alinea ist ein Arbeitstier: Sie braucht keine Pausen, macht nie Feierabend und liest ganze Bücher in wenigen Sekunden. Jeden Tag lernt sie dazu. So kann sie aktuell 25 Emotionen unterscheiden, Dialekte erkennen oder Texte aufgrund von Lesbarkeit und Stil bewerten. Nur Kaffeetrinken ist mit ihr leider nicht möglich.

Für Jonas Al-Nemri ist das kein Manko. Zusammen mit seiner Frau Géraldine hat er die Scriptbakery im Sommer 2019 gegründet, mittlerweile zählt das Start-up mit Sitz im Freiburger Kreativpark in der Lokhalle sieben Mitarbeiter. Es sind also genügend Leute da, mit denen man eine Kaffeepause einlegen kann.

Und Alinea ist ja auch immer auf Achse. Im Herder Verlag und rund zwanzig weiteren ist sie mittlerweile fest angestellt. Die großen deutschen Verleger probieren sie gerade aus. Obwohl sie einzigartig ist – weltweit ist sie die einzige KI, die Emotionen aus Texten so genau erfassen kann –, müssen Al-Nemri und sein Team bei den Verlagen noch Überzeugungsarbeit leisten. „Die Branche ist in Sachen Digitalisierung noch am Anfang“, sagt er. Viele lassen sich Leseproben noch per Post schicken.

»Kein Krimi ohne Angst und Spannung«

Das Problem: Die Verlage bekommen solch eine Flut an unaufgefordert eingeschickten Manuskripten, dass sie rund 98 Prozent davon ablehnen – ohne sie jemals gelesen zu haben. Buchliebhaber Al-Nemri bemerkte das schon während seines Studiums. Zusammen mit Studierenden aus Freiburg, Hamburg und Zürich gründete er 2012 einen Verlag, der Innovationen am Buchmarkt testen wollte. Als sie bei Herder ein Projekt zum Thema „Crowdfunding“ starteten, fielen ihnen die Massen an ungelesenen Einsendungen auf.

Ihre Lösung: Durch eine cloudbasierte Software werden Manuskripte automatisch angenommen und verwaltet. Das erleichtert nicht nur dem Lektorat das Leben, sondern spart einem mittelständischen Verlag nach Berechnungen des Start-ups auch rund 4500 Euro im Monat. Doch Alinea kann noch viel mehr. Sie schaut sich etwa die Bestseller eines Krimi-Verlags an und analysiert bei neuen Manuskripten, ob die vorherrschenden Emotionen – Spannung, Angst, Ekel – dem Schema der Vorgänger entsprechen.

Dafür arbeitet sie nicht nur mit bestimmten Schlagwörtern wie Friedhof und Wortwolken wie Leiche – Grab – Schaufel. Sie kann auch implizite Stimmungen erkennen, die überhaupt nicht in Worte gefasst werden. Zusammen mit der Analyse von Lesbarkeit, Stil und Fehlerquote ergibt das einen ersten Hinweis auf einen potenziellen Bestseller.

Oft stoßen Al-Nemri und sein Team trotzdem auf Skepsis: Was ist mit Büchern, die nicht dem Standard entsprechen? Wird es durch Künstliche Intelligenzen bald nur noch Einheitsbrei in der Literatur geben? „Das ist genau das, was wir nicht wollen“, versichert der 37-Jährige. Die Verkaufszahlen, die sich mit einem Manuskript wahrscheinlich erreichen lassen, spielen daher auch nur eine Nebenrolle bei der Bewertung. Zudem gibt es natürlich noch die Lektor·innen aus Fleisch und Blut, die der Algorithmus niemals ersetzen wird: „Wir geben deren Bauchgefühl lediglich eine Datengrundlage.“

Diese Grundlage wächst und wächst: 47 Emotionen soll Alinea bald können. Auch ihren Kundenkreis wollen die Freiburger erweitern: Bis Ende des Jahres soll eine Autorenplattform hinzukommen, die Manuskripte von Schriftstellern analysiert und an geeignete Verlage weiterleitet. Zudem arbeitet das Team gerade mit ein paar der größten deutschen Zeitungsverlage zusammen. Das Ziel: Die emotionale Struktur von Artikeln so anzupassen, dass sie mehr gelesen werden und passende Werbung dazu geschaltet werden kann. „Dabei geht es aber nur um Akzente“, betont der Gründer, „die Information soll und muss dieselbe bleiben.“

Und was hält Alinea von diesem Artikel?

Lesbarkeit: schwer-mittel
Dominierendes Thema: Bestseller – Bücher – Autoren – Lektoren
Emotionsverlauf: Erwartung, schwungvoll, dynamisch. Enttäuschung, Gedämpft­heit. Hoffnung. Aktivität, Dynamik, Erwartung. Ablehnung, skeptisch. Optimismus, Stolz, couragiert.

Foto: © Scriptbakery