Gewagte Offensive: Rathaus will zwölf Jahre früher klimaneutral sein Politik & Wirtschaft | 28.12.2021 | Till Neumann, Philip Thomas & Pascal Lienhard

Erst im vergangenen Jahr hat die Stadtspitze prüfen lassen, wie Freiburg 2035 klimaneutral werden könnte. Ihre Erkenntnis: Unmöglich, wir bleiben bei 2050. Jetzt setzen die Verantwortlichen zum Sprint an. Schon zwölf Jahre früher (2038) will Freiburg eine bilanzierte Ökonull vorweisen. Klappen soll das mit einer Klimaschutzoffensive. Darin stecken viel Geld, ein Beirat und Druck auf Land und Bund. Selbst Klimaaktivisten sind beeindruckt. Der Protest von der Straße wird dennoch wachsen.

„Wir verabschieden uns vom Möglichen hin zum Nötigen“, sagt Freiburgs Oberbürgermeister Martin Horn. Der Satz hat’s in sich, beinhaltet er doch den Kern des Problems: Es ist nicht möglich, aber wir versuchen es trotzdem. Gesagt hat ihn der 37-Jährige bei der Vorstellung der „Klimaschutzoffensive“ im November. Die Pressekonferenz ist ein Paukenschlag: Um ganze zwölf Jahre schiebt die Stadtverwaltung ihr Klimaziel nach vorne. Aus 2050 wird 2038.

Horn

Will das Unmögliche versuchen: Freiburgs Oberbürgermeister Martin Horn.

Gelingen soll das vor allem mit viel Geld. 120 Millionen Euro will das Rathaus bis 2028 einsetzen. 72 Millionen kommen mit einem Zukunftsfond Klimaschutz aus dem städtischen Haushalt. Weitere 48 Millionen sollen über Fördertöpfe akquiriert werden. Abrufen können das Geld allein Ämter, Eigenbetriebe und Gesellschaften mit städtischer Beteiligung. Ziel ist, den CO2-Verbrauch signifikant zu senken.

Über sechs Jahre je zwölf Millionen Euro zu veranschlagen, findet Horn enorm. Gleich drei Doppelhaushalte werden damit belastet. „Eine kommunale Kraftanstrengung“, betont der OB. Doch er ist überzeugt: „Die Zeit läuft gegen uns, wir brauchen mehr Geschwindigkeit.“

Umweltbürgermeisterin Christine Buchheit teilt seine Meinung: „Klimaschutz braucht politischen Willen – und es braucht Investitionen.“ Dass der Fonds auf sechs Jahre angelegt ist, verschaffe Planungssicherheit und Perspektive. „Wenn wir nicht handeln, wird es teurer“, sagt die Bürgermeisterin. Gerade Freiburg sei vom Klimawandel besonders betroffen: „Am Tuniberg bekommen wir bei Wein- und Obstanbau noch in diesem Jahrhundert Schwierigkeiten. Wir haben Druck und wollen handeln.“

Buchheit

Will handeln: Umweltbürgermeisterin Christine Buchheit.

Zweiter Teil der Offensive ist ein Fachbeirat. Die Verwaltung besetzt ihn mit Vertreter·innen aus Wissenschaft und Forschung. Sie sollen jeden Antrag für Geld aus dem Zukunftsfonds bewerten. Wichtigstes Kriterium soll das CO2-Einsparpotential pro eingesetztem Euro sein. Einen „CO2-Check“ nennt Buchheit das. Weitere Kriterien seien etwa Innovations- und Bildungspotenzial oder Öffentlichkeitswirksamkeit.

Gefahr für Winzer

Die ersten Förderanträge können 2022 eingereicht werden. Antragsberechtigt ist als städtische Tochter auch die Freiburger Verkehrs AG (VAG). „Die VAG begrüßt alles, was zu mehr Klimaschutz führt“, lobt Sprecher Andreas Hildebrandt. Ideen für Förderprojekte hat er bereits: „Wir denken zum Beispiel über die Umstellung auf LED-Beleuchtung in unseren Werks- und Abstellhallen und in der Verwaltung nach.“ Auch der Ausbau von Photovoltaik-Anlagen sei interessant. Die VAG selbst will bis 2035 klimaneutral werden.

Auch die Abfallwirtschaft und Stadtreinigung Freiburg (ASF) möchte das schaffen. „Bei diesem Vorhaben sind wir natürlich auch auf Investitionszuschüsse aus verschiedenen Fördertöpfen angewiesen“, erklärt Sprecher Peter Krause. Er sei daher sicher, dass auch die ASF den Fonds der Klimaschutzoffensive anzapfen werde. Ähnliches lässt die Freiburger Stadtbau (FSB) verlauten.

Genug Arbeit also für den Fachbeirat. Dessen Zusammensetzung will das Rathaus im Frühjahr bekannt geben. Er soll dem Gemeinderat die Arbeit erleichtern, der über die Gelder aus dem Zukunftsfonds entscheidet. Ein externes Gremium sei im Rat schon häufiger gewünscht worden, erklärt Buchheit. Klaus von Zahn, der Leiter des Freiburger Umweltschutzamts, ergänzt, warum der zentrale CO2-Check entscheidend sei: „Das Einsparpotenzial ist nicht einfach zu sehen, viele rechnen da anders.“ Jetzt sollen die Vorhaben mit einer einheitlichen Berechnungsgrundlage „durch eine Stelle geschleust werden“.

Die 48 Stadträt·innen hat das überzeugt: Sie haben die Klimaschutzoffensive Ende November mit nur einer Gegenstimme angenommen. Im Paket mit einem „Masterplan Wärme“ und der Einrichtung eines „Klimabürgerrats“. Er kenne keine andere Kommune, die mit so einer Summe ein Zeichen setze, lobte beispielsweise Walter Krögner von der SPD/Kulturliste. Der Stadtrat zog einen Vergleich zum neuen Kanzler: „Olaf Scholz würde sagen: Wir versuchen es mit Wumms.“

Den Bazooka-Effekt erhofft sich auch Martin Horn: „Die Offensive ist ein Appell an Land und Bund.“ Auf dem Weg zur Klimaneutralität habe die Kommune nur ein Drittel selbst in der Hand. „20 Prozent der Entscheidungen liegen beim Land, 50 Prozent beim Bund“, rechnet Horn vor. „Wir wissen, wir können es faktisch alleine nicht erreichen, aber wir versuchen es in dem Drittel.“

Zwei zentrale Aufgaben nennt Buchheit: „Wir müssen den Energieverbrauch drosseln und Gebäude modernisieren.“ Konkrete Projekte gebe es genügend, rund 140. Entscheidend sei jetzt deren Umsetzung. Doch genau dafür fehlten dem Rathaus die Mittel. „Das Geld liegt auf der Straße, aber wir haben nicht genügend Leute, um es abzurufen“, klagt Buchheit. Auch von Zahn sieht das so: „Die Fördermöglichkeiten sind gut.“ Doch nicht alles werde abgegrast.

Dass es viel Geld und Mut brauchen wird, kann Christoph Kost vom Fraunhofer Institut für Solare Energiesysteme (ISE) in Freiburg bestätigen. Mit der Studie „Wege zu einem klimaneutralen Energiesystem“ ist er der Frage nachgegangen, wie sich gesellschaftliche Trends auf das Erreichen der Klimaziele auswirken. Vier Szenarien hat er für die Energiewende genutzt: Beharrung, Inakzeptanz, Suffizienz und Referenz. Sie sehen Widerstände der Bevölkerung gegen neue Techniken im Privatbereich oder den Ausbau größerer Infrastrukturen vor. Aber auch, wie es gehen könnte, wenn sich das Verhalten positiv entwickelt und die Rahmenbedingungen günstig sind. Was passiert, wenn die Menschen nicht bereit sind für E-Mobilität und weiter auf Verbrenner setzen? Was wenn sie im Heizkeller lieber Gas- oder Ölkessel betreiben als eine Wärmepumpe?

Kost

Weiß, dass es viel Geld und Mut brauchen wird: Christoph Kost vom Fraunhofer Institut für Solare Energiesysteme (ISE) in Freiburg

Die Studie blickt auf Deutschland mit dem Ziel Klimaneutralität 2045. Sie zeigt: Bei allen vier Szenarien ist die Energiewende zu schaffen. Die Kostenspanne ist gewaltig: Im günstigsten Fall belaufen sich die Mehrkosten auf 440 Milliarden Euro. Im ungünstigsten sind es 2330 Milliarden. Also mehr als das Fünffache. Die Differenz hat selbst den Forscher überrascht.

„Geld liegt auf der Straße“

Die Zahlen sind gewaltig, findet Christoph Kost. Doch er sagt: „Es lohnt sich, jetzt zu investieren.“ Langfristig werde es dann günstiger. Ob die Bevölkerung für den Umbruch bereit sei? „Es ist ein extremer Wandel nötig, das haben viele noch nicht realisiert“, sagt der 39-Jährige. Vorreiter seien nötig. Das Ziel 2038 der Stadt Freiburg findet er „ambitionierter als ambitioniert“.

Wie Energie auf ungewöhnlichem Wege gespart werden kann, hat ein weiterer Forscher des ISE gerade in Freiburg vorgestellt: Pascal Blank möchte landwirtschaftlich genutzte Flächen für die Stromerzeugung verwenden. „In Agri-Photovoltaik steckt Riesenpotenzial“, betont Blank bei einem Event des Fördervereins Energie- und Solaragentur Regio Freiburg (FESA) im Dezember. Acker wird praktisch doppelt genutzt, indem Sonnenpaneele bis zu fünf Meter etwa über Weizenfelder montiert werden.

Flächen wären vorhanden: Knapp die Hälfte der Bundesrepublik (47 Prozent) werden landwirtschaftlich genutzt. Nur rund vier Prozent dieser Fläche würde laut Blank ausreichen, um den aktuellen Strombedarf in Deutschland (rund 500 Gigawatt) durch Agri-PV zu decken.

Zusammen entwickelten Pflanzen und Paneele nützliche Synergieeffekte: Die PV-Anlagen schützen die Ernte vor starker Sonne oder Extremwetter-Ereignissen wie Hagel. Die Pflanzen unter den Modulen wiederum bildeten ein kühlendes Mikroklima, das auch leistungssteigernd wirke: „Bei Temperaturen jenseits der 25-Grad-Marke sinkt der Leistungsgrad von Photovoltaik-Paneelen um 0,4 Grad je weiterem Grad.“

Aktuell müssen solche Anlagen noch aus eigener Tasche gezahlt werden. Zwar betreibt der Energieversorger Badenova seit Februar ein mit 21.380 Euro gefördertes Projekt „Viti-Photovoltaik“ in der Weinbauregion Kaiserstuhl, „Förderung gibt es sonst jedoch noch nicht“, so Blank. Doch das könnte sich bald ändern. Die neue Regierung will Agri-Photovoltaik stärken.

Auch die Badenova zeigt, dass der Zukunftsfonds zünden kann. Sie arbeitet mit dem Innovationsfonds für Klima- und Wasserschutz schon seit 20 Jahren erfolgreich. „Der Fonds hat seit dem Start im Jahr 2001 rund 33 Millionen Euro Fördermittel für 312 Umweltprojekte bereitgestellt“, sagt Nachhaltigkeits-Referentin Angela ­Hinel. Investitionen von 150 Millionen Euro seien dadurch in der Region angeschoben worden. Die 27-Jährige ist überzeugt: „Der Multiplikatoren-Effekt kann eine große Wirkung entfachen.“

Arbeitet schon seit 20 Jahren mit dem Innovationsfonds für Klima- und Wasserschutz: Nachhaltigkeits-Referentin Angela ­Hinel.

Auf ein großes Projekt hat sich die Badenova-Tochter Wärmeplus eingelassen. Um den Anteil erneuerbarer Energien am Wärmeverbrauch zu erhöhen, soll in der Region die Tiefengeothermie gefördert werden. Dafür wird aktuell ein Potenzialgebiet erkundet. Die Badenova-Tochter ist vor allem um eine transparente Kommunikation bemüht.

Seltenes Lob der Aktivist·innen

Schließlich ist vor allem die Katastrophe in Staufen, wo Bohrungen zu Hebungsrissen geführt haben, nicht vergessen. In öffentlichen Veranstaltungen erklären die Verantwortlichen mit Unterstützung von Wissenschaftlern, weshalb die geplante hydrothermale Tiefengeothermie sicher ist. Klaus Preiser, technischer Geschäftsführer der Wärmeplus: „Das Potenzial der Erdwärme ist in menschlichen Dimensionen gerechnet quasi unerschöpflich.”

Große Hoffnungen ruhen im Rathaus auch auf dem Wärmenetz 4.0 – ebenfalls in Kooperation mit Wärmeplus. Mit dem 36 Millionen Euro teuren Großprojekt soll Abwärme der Schwarzwaldmilch Freiburger Wohnungen heizen. Bis zu 5000 Personen sollen davon ab 2024 profitieren.

Die Aktivisten von Fridays for Future sehen die Dynamik und begrüßen den neuen Vorstoß. „Wir sind mit der Klimaschutz­offensive grundsätzlich zufrieden“, sagt Sprecher Lukas Gress. Er betont: „Es kommt nicht so oft vor, dass wir Lob aussprechen für politische Zielsetzungen.“ Dass mehr Geld zur Verfügung stehe, sei positiv. Genau wie der Expert·innenrat. Entscheidend sei jetzt, dafür die richtigen Personen zu finden, die unabhängig die Anträge bewerten. „Wir werden da genau hinschauen“, sagt der 18-Jährige.

130 Maßnahmen für mehr Klimaschutz hat die Freiburger Gruppe schon 2019 ans Rathaus gerichtet. Sie fordern unter anderem mehr Photovoltaikanlagen auf Freiburger Schulen. Auch die Wärmeversorgung müsse umgebaut werden. „Wir haben 93 Prozent fossile Wärme in Freiburg“, bemängelt Gress. Die Stadt sieht er jetzt in einer Vorreiterrolle. Tatsache sei aber: „Alle Kommunen in Deutschland sind weit hintendran.“ Ausruhen sei nicht angesagt: „Wir wollen weiter Druck machen“, sagt der Klimaaktivist.

So geht es auch der Gruppe Klimaentscheid Freiburg. Sie will, dass Freiburg 2035 klimaneutral wird und einen Klimaentscheid erwirken. „Wir begrüßen es sehr, dass sich die Stadt ambitioniertere Ziele setzt“, sagt Sprecher Julian Kolbe. Diese seien auch dringend notwendig, wenn man sich den bisherigen CO2-Reduktionspfad anschaue. In allen Bereichen muss schneller gehandelt werden: „Das betrifft sowohl die Strom- und Wärmeversorgung mit Erneuerbaren Energien als auch ein Umdenken beim Verkehr und Bauen.“

Im Rathaus dürfte man nicht bestreiten, dass die zunehmenden Klimaproteste ihren Anteil an der neuen Offensive haben. Martin Horn sieht keinen Wettstreit zu anderen Städten oder Verwaltungsebenen. Er konstatiert dennoch: „Der Bund will 2045 klimaneutral sein, das Land im Jahr 2040. Es wäre bemerkenswert, wenn die Green City dann bei 2050 verharrt.“

Fotos / Illustration: © freepik.com, Badenova, Patrick Seeger, Stadt Freiburg, Fraunhofer Institut