Interview  mit  Ulrich  von  Kirchbach: „Schuldenbremse führt in Katastrophe“ Politik | 16.12.2024 | Lars Bargmann

Ulrich von Kirchbach

Ulrich von Kirchbach ist der mit Abstand dienstälteste Dezernent der Stadt Freiburg. Seit 2002 ist der 68-Jährige Kultur- und Sozialbürgermeister, seit April 2018 auch Erster Bürgermeister und damit Stellvertreter des Oberbürgermeisters Martin Horn. Von Kirchbach ist seit 1973 SPD-Mitglied. Es gab schon bessere Zeiten für die Sozial­demokraten. Im traditionellen Winter-Interview mit dem chilli-­Magazin spricht er über seine Partei, die Schuldenbremse, den höchst umstrittenen Pergolaplatz für Drogensüchtige, den Endspurt bei der Sanierung des Augustinermuseums und darüber, warum die anstehende Eröffnung des NS-Dokumentationszentrums zu den Highlights seiner Amtszeit zählt.

chilli: Herr von Kirchbach, vor einem Jahr haben Sie der Ampel-­Koalition im chilli-Interview eine Drei plus gegeben. Bleiben Sie dabei?

von Kirchbach: Die Regierung wird in einigen Jahren möglicherweise anders bewertet, aber es war eine schwierige Konstellation. Scholz konnte nicht immer auf den Tisch hauen, sonst wäre die Koalition schon vorher zerbrochen. Jetzt stehen wir vor Neuwahlen, und das ist sicher besser als ein zähes Ringen bis in den Herbst. Man hat ja auch gesehen, dass für die FDP der Beschluss, aus der Regierung zu gehen, de facto schon feststand. Insofern war das jetzt ein richtiger Schritt, die Vertrauensfrage zu stellen.

chilli: Ein Hauptgrund für das unwürdige Ende, von der FDP strategisch geplant – wenn auch mit anderem Ausgang –, war das sture Festhalten von Christian Lindner an der Schuldenbremse. Muss die von der neuen Regierung gelockert werden?

von Kirchbach: Wir müssen die Schuldenbremse, vor allem für Investitionen, auf jeden Fall modifizieren. Das sagen alle Wirtschaftsweisen. Die Kommunen brauchen Geld, damit sie ihre zahlreichen Aufgaben erledigen können. Wir brauchen vor allem Geld für den geförderten Mietwohnungsbau. Ansonsten laufen wir von einer sehr schwierigen Situation, die wir jetzt schon haben, in die Katastrophe rein. Und Investitionen generell sind auch als Antrieb fürs Wirtschaftswachstum notwendig. Es spricht alles dafür, nicht ideologisch an einer Schuldenbremse festzukleben, die unter ganz anderen Rahmenbedingungen beschlossen wurde. Andere Länder, die viel massiver verschuldet sind, laufen uns beim Wirtschaftswachstum inzwischen den Rang ab. Und wir laufen in eine Rezession hinein. Die neue Regierung, unabhängig davon, in welcher Konstellation dies dann sein wird, ist gut beraten, hier eine Modifizierung vorzunehmen.

»Nicht ideoligisch festkleben«

chilli: Nun hat Ihre Partei den amtierenden Kanzler zum Kandidaten gekürt. Olaf Scholz ist gelinde gesagt nicht der beliebteste Politiker, Boris Pistorius ist seit langer Zeit mit Abstand der beliebteste. Befürworten Sie die Entscheidung für Scholz?

von Kirchbach: Ich habe die Diskussion um Scholz nie verstanden. Jedem, dem man ein Mikrofon hingehalten hat, fühlte sich dazu berufen, irgendwas dazu zu sagen. Dadurch ist eine total irre Diskussion entstanden, die der SPD, Scholz und Pistorius mehr geschadet als genutzt hat. Wenn der Kanzler wieder antreten will, sollte man sich hinter ihn stellen.

chilli: Die Umfragewerte für die SPD sind seit der Aufregung um die K-Frage nicht besser geworden …

von Kirchbach: Umfrageergebnisse, das hat man bei Scholz schon in Hamburg und auch in Berlin ja gesehen, können sich schlagartig ändern. Scholz wird gerne unterschätzt, für ihn spricht aber seine große Erfahrung, und er hat auch ein großes Selbstbewusstsein. Für die Wählerinnen und Wähler ist nicht entscheidend, was war, sondern sie wollen wissen, wofür jemand steht und was jemand erreichen will.

chilli: Der Aufreger des Jahres in Ihrem Dezernat war der Pergola-Platz für Suchtkranke im Colombi-Park. Warum hat der dem Realitätscheck nicht standgehalten?

von Kirchbach: Das war kein Aufreger in meinem Dezernat allein, sondern es war eine gesamtstädtische Entscheidung, basierend auf einem Gemeinderatsbeschluss, den Colombipark aufzuwerten und den Pergolaplatz zu realisieren. Klar, hinterher ist man schlauer als vorher. Es gibt zwei Gründe, die dazu geführt haben, dass das Ganze so nicht funktioniert hat. Zum einen ist der Platz mit dem Umbau kleiner geworden, als er ursprünglich geplant war, auch durch denkmalschutzrechtliche Auflagen …

chilli: … der Platz war schon vor dem Denkmalproblem fast nur halb so groß wie der Käfig …

von Kirchbach: … danach ist er aber nur noch ein Drittel so groß gewesen. Noch problematischer war, dass wir den Anwohnern versprochen haben, wir machen den Platz um 22 Uhr zu. Daraus hat sich eine doppelte Beschwerdelage ergeben: Passanten konnten ohne Sichtschutz auf den Platz schauen, und bei den Anwohnern lagerten die suchtkranken Menschen teilweise vor den Eingängen und in den Tiefgarageneinfahrten. Deshalb mussten wir reagieren und auch trotz Sommerpause schnell handeln. Oberbürgermeister Martin Horn hat mich gebeten, das Ganze in die Hand zu nehmen und Lösungen aufzuzeigen. Wir haben Gespräche mit allen Beteiligten aufgenommen, auch mit der Polizei. Und dann haben wir die Stadt nach Alternativen gescannt, und der heutige Platz an der Stefan-Meier-­Straße war eindeutig derjenige mit den meisten Pluspunkten. Nicht zuletzt ohne Öffnungsbeschränkungen. Ich konnte aber keinen zweiten Beteiligungsprozess durchführen, denn dann wäre das Ganze immer mehr eskaliert.

chilli: Der Gemeinderat muss dem neuen Platz im März erst noch zustimmen – und wird nicht nur von beiden nahen Gewerbeschulen bedrängt. Wagen Sie eine Vorhersage?

von Kirchbach: Bis jetzt ist es dort auf dem Platz sehr gut gelaufen. Das sagt auch die Polizei. Es gab bisher nur einen etwas gravierenderen Vorfall zwischen zwei Platznutzenden. Die Leute haben den Platz rasch sehr gut angenommen.

»Wäre eskaliert«

chilli: Es wäre von Anfang an der bessere Platz gewesen.

von Kirchbach: Vielleicht, aber so weit waren wir damals noch nicht. Wir haben die Nähe zum Drogenkonsumraum und dem Kontaktladen gesehen.

chilli: Aber dass man einem Suchtkranken nicht sagen kann, ab 22 Uhr soll er in den Wald gehen …

von Kirchbach: Das sind halt die Kompromisse, die man eingehen muss. Und manchmal sind Kompromisse dann auch falsch. Mit den Gewerbeschulen machen wir alle zwei Wochen Evaluierungsgespräche. Aus einer emotionalen Betroffenheit und Diskussion ist jetzt ein sachlicher Austausch geworden. Ich sehe derzeit keine großen Strömungen, die gegen den Platz sprechen. Die suchtkranken Menschen wollen in Ruhe gelassen werden und haben keine Ambitionen, Stress zu machen. Und wir können die Suchtkranken schließlich nicht aus der Stadt rausbeamen.

chilli: Was passiert mit dem für stolze 2,2 Millionen Euro gebauten Pergolaplatz?

von Kirchbach: Vor der Gemeinderatsentscheidung Anfang April sicher nichts. Man muss abwarten, wie es weitergeht, ob wir den Platz nicht doch parallel zur Öffnung des Kontaktladens aufhalten müssen.

chilli: Wetten Sie dagegen, dass der langfristig nicht mehr von Junkies genutzt wird?

von Kirchbach: Vielleicht kommt man nach dem Sommer 2025 zu dem Schluss, dass wir da was anderes machen.

chilli: Seit 20 Jahren wird das Augustinermuseum saniert. Aus ursprünglich 23 Millionen sind dabei fast 100 geworden. Keine Dimensionen wie bei der Elbphilharmonie, aber auch krass. Vom Architekten Christoph Mäckler hat sich das Rathaus Mitte 2021 getrennt. War das auch teuer?

von Kirchbach: Es gab eine einvernehmliche Trennung. Eine nicht gütliche   Trennung wäre für die Stadt wesentlich teurer gewesen. Und wir wären wahrscheinlich erst Jahre später mit der Sanierung fertig gewesen.

»Vollkommen safe«

chilli: Handwerkerfirmen loben uns gegenüber das Büro Habammer/Leiber, das den Job von Mäckler übernommen hat. Sie sagen aber auch, dass nach der Sanierung wieder eine Sanierung anstehen wird. Nicht nur wegen der nicht DIN-gerechten Entwässerung in den Innenhof …

von Kirchbach: Wir haben uns wegen Ihrer Frage noch mal erkundigt. Diese Aussagen der Firmen können wir nicht nachvollziehen. Wir führen eine sachgerechte Sanierung im Innenhof durch, inklusive einer intensiven Entwässerung. Insofern sind wir da vollkommen safe.

chilli: Was wetten Sie drauf, dass das Augustiner im kommenden Jahr komplett fertig ist und eine große Eröffnungsfeier steigt?

von Kirchbach: Baulich wird das Augustinermuseum hundertprozentig 2025 fertig. Dann müssen wir den letzten Bauabschnitt aber auch noch einrichten. Ob das noch 2025 klappt, kann ich heute noch nicht sagen. Ich will die Einweihung auf jeden Fall noch als Bürgermeister erleben. (Das wäre spätestens am 31. März 2026, d. Red.).

chilli: Auch erst im kommenden Jahr, geplant war in diesen Tagen, soll das NS-Dokuzentrum eröffnet werden. Neben 6,3 Millionen Bau- und Einrichtungskosten kommen rund 700.000 Euro jährlich für den Betrieb auf die Stadtkasse zu. Warum ist das gut angelegtes Geld?

von Kirchbach: In den 700.000 Euro sind rund 300.000 Euro gebäudespezifische Kosten veranschlagt, davon annähernd die Hälfte kalkulatorische Kosten. Das NS-Dokuzentrum war überfällig und gerade in der heutigen Zeit, in der demokratiefeindliche Kräfte, Rechtspopulisten oder rechtsextreme Kräfte in ganz Europa erstarken, ist das Gedenken, das Bildungsangebot und auch die Zukunftsorientierung, wie man sich mit Herausforderungen auseinandersetzt, wichtiger denn je. Vor allem haben wir  in Freiburg das einzigartige Konstrukt, dass die Landeszentrale für politische Bildung mit einzieht. Insofern haben wir eine Wohngemeinschaft der Demokratie. Der komplette Gemeinderat, mit den üblichen zwei Gegenstimmen, steht hinter dem Projekt. Übrigens war es ein Glücksgriff, dass wir das Gesamtgebäude mit ehemaligem Verkehrsamt und Rotteckhaus kaufen konnten. Einen authentischeren Ort mit historischen Spuren aus der NS-Zeit und originalem Luftschutzbunker gibt es für Freiburg nicht.

chilli: Glauben Sie, dass da jedes Jahr sagen wir 5000 Menschen hingehen?

von Kirchbach: Ich glaube, dass es deutlich mehr sein werden. Die Neugier in der Bevölkerung ist schon jetzt sehr groß, und es wird eine wichtige Bildungseinrichtung für Schülerinnen und Schüler werden. Das Dokuzentrum wird auch überregional eine bedeutsame Einrichtung werden.

chilli: Auf so einer Rangliste in Ihrem jahrzehntelangen Schaffen für die Stadt Freiburg: Ist das Doku-Zentrum unter den Top 3?

von Kirchbach: Auf jeden Fall ganz weit vorne. Es war ja auch nicht ganz einfach, es zu realisieren.

chilli: Ihre dritte Amtszeit endet Ende März 2026. Mit einer dann 24-jährigen Dienstzeit wären Sie wohl der am längsten amtierende Sozialdezernent in der Geschichte der Stadt Freiburg. Was bedeutet Ihnen das?

von Kirchbach: 24 Jahre ist eine extrem lange Zeit. Ich habe immer alles gegeben und hoffe, dass ich das auch in den nächsten 15 Monaten noch kann. Man kann nie alles richtig machen, aber ich kann in den Spiegel schauen und habe die Stadt sowohl kulturpolitisch als auch sozialpolitisch in vielen Bereichen vorangebracht. Es wird anerkannt, was ich leiste, zu wie vielen Terminen ich gehe. Es ist eine mit viel Energie verbundene Arbeit, die ich aber sehr gern gemacht habe und weiterhin mache für die Stadt, für die Bürgerinnen und Bürger.

Hochs und Tiefs

chilli: Es gab viele Hochs, aber auch manches Tief …

von Kirchbach: Was meinen Sie?

chilli: Etwa die gescheiterte Bewerbung als Europäische Kulturhauptstadt.

von Kirchbach: Ja, das war kein Hoch. Sie wurde ja schon im Keim erstickt, bevor man überhaupt so richtig in die Bewerbungsphase gestartet ist. Mich belastet aber mehr, dass wir im Bereich der Wohnungslosigkeit nicht so richtig vorankommen, wie es nötig wäre. Wir bauen zwar Wohnungen, haben das Hotel Schiller übernommen, bringen jetzt auch bei der Stadtmission Wohnungslose unter, bauen Kleinstwohnungen, aber das ist trotzdem alles immer noch zu wenig. Manche Dinge kann man eben in einer wachsenden Stadt nicht allein beeinflussen.

Ich hätte auch sehr gerne ein orginär neues Museum gebaut. Unsere Museen befinden sich ja alle in historischen, umgenutzten Gebäuden.

chilli: Dann müssten Sie doch eine vierte Amtszeit anstreben …

von Kirchbach (lacht): Nein, am 31. März 2026 ist Schluss. Das wird vielleicht meine Nachfolge dann angehen.

chilli: Herr von Kirchbach, vielen Dank für dieses Gespräch.

Fotos: © Lars Bargmann