Rathaus verbannt Obdachlose aus Innenstadt STADTGEPLAUDER | 19.04.2016 | Till Neumann

Das Rathaus hat im Februar durchgegriffen: Obdachlose dürfen nicht mehr in der Innenstadt schlafen. Das Verbot gibt es seit 1999, es umzusetzen ist neu. Die Obdachlosen werden zur Notunterkunft Oase geschickt – die ist jedoch überlaufen und wenig beliebt. Die Stadt steht unter Druck und will handeln. Sozialbürgermeister Ulrich von Kirchbach sagt dem chilli, dass das Rathaus 2017 eine weitere Unterkunft bauen will. In Karlsruhe oder Stuttgart wird das Übernachten in der Innenstadt indes einfach akzeptiert.

Eingewickelt in eine braune Decke sitzt Björn Gondesen in der Kajo. Der 44-Jährige isst ein Brötchen, seine Hündin Nala liegt neben ihm. Seit drei Jahren ist der Betonpfeiler vor dem Esprit Store ihr Stammplatz – Tag und Nacht. Sie fühlen sich hier wohl und sicher. Von den Passanten gibt es ein paar Groschen, die vorbeifahrende Polizei bietet Sicherheit.  

Gondesen hat Ende Februar das Schreiben von der Polizei überreicht bekommen, das dem chilli vorliegt. „Wir fordern Sie hiermit auf, sofort Ihr Lager aufzulösen und sich mit Ihren Habseligkeiten von dort zu entfernen“, steht dort. Mit Verweis auf Artikel 12 der Polizeiverordnung zur Sicherung der öffentlichen Ordnung und gegen umweltschädliches Verhalten in der Stadt Freiburg.  

Der Grund für das Schreiben: „Uns liegen mehrfach Beschwerden von Anwohnern und Passanten über die sich ausbreitenden Lager und das Nächtigen in der Innenstadt vor“ – steht auf dem Zettel.  

„Ich war entsetzt“, sagt Gondesen. Er habe nie Probleme mit Anwohnern oder Händlern gehabt. Der Pfeiler ist sein Zuhause. Mit einem Modegeschäft nebenan hat er beste Kontakte. Man kennt und hilft sich, wird dort bestätigt. Das Hauptproblem ist für Gondesen die „Bettlermafia“. Immer mehr Gruppen aus Osteuropa kämen in die Stadt. „Sie machen Müll und Lärm, sprechen Leute an, verlangen Toilettengeld, obwohl sie es nicht dürfen“, sagt Gondesen. „Uns deswegen zu vertreiben, ist totaler Quatsch“, findet der besonnene Mann. Seinen Schlafplatz hat er dennoch geräumt.  

Verstimmt: Frank Wickborn (mit Hut) und „Schimmel“ (Mitte) wärmen sich in der Pflasterstub auf.

Er und die anderen Verbannten wurden an die Oase verwiesen, die städtische Notunterkunft und Beratungsstelle für Obdachlose an der Haslacher Straße. Für Gondesen keine Option: „Ich war mal da. Die haben mir alles geklaut, das ist total scheiße. In die Oase will keiner freiwillig.“ Deren Leiter Claudius Heidemann kann die Kritik verstehen: „Die Oase ist ein Sammelbecken für schwierige Fälle.“ Gegen Diebstahl gebe es Spinde und Schließfächer. Wer erwischt wird, bekomme tagsüber Hausverbot.      

Die 2012 eröffnete Fachstelle bietet vielfältige Unterstützung und 45 Schlafplätze, die quasi durchgehend belegt sind, wie Heidemann berichtet. Das zeige, dass das Angebot gut ist. Abweisen dürfe er niemanden. Monat für Monat gebe es etwa 40 Neuaufnahmen. „Wir haben sehr große Erfolge mit unserem Konzept“, sagt Heidemann.  

Gondesen geht lieber in die Pflasterstub der Caritas. In die Anlaufstelle in der Herrenstraße kommen täglich etwa 100 Menschen, berichtet Leiter Willibert Bongartz. Von 7 bis 12 Uhr können Obdachlose dort frühstücken, telefonieren, werden versorgt und beraten. „Freiburg ist ein gutes Pflaster für Obdachlose“, sagt Bongartz. Es gebe viele Hilfssysteme und Anteilnahme, aber das Wohnproblem sei groß. Das Übernachtungsverbot habe viele überrascht. „Wenn man jemanden des Platzes verweist, sollte man Alternativen anbieten.“  

An einem der Tische sitzt Frank Wickborn. Er hat kürzlich noch unter der Leo-Wohleb-Brücke geschlafen. „Da haben sie uns verjagt“, sagt der 48-Jährige. Die Polizei habe Schlafsäcke, Schuhe und Matratzen mitgenommen. Er versteht nicht, warum. Auch Wickborn geht nicht gerne in die Oase. Er schläft lieber in der Herrenstraße, das werde geduldet. So macht es mittlerweile auch Björn Gondesen.  

Auch Lokalpolitiker sind wegen des Verbots in Aufruhr. Irene Vogel, Stadträtin der Unabhängigen Listen, ärgert sich über das Vorgehen. Die Grünen bitten um eine Stellungnahme des Rathauses. Sozialbürgermeister Ulrich von Kirchbach verteidigt gegenüber dem chilli das Durchgreifen. Die Übernachtungen in der Innenstadt hätten Ende 2015 stark zugenommen. Da habe man ein Zeichen setzen wollen. Alle paar Meter sei man damals über einen Schlafsack gestolpert. Unter den rund 60 Obdachlosen in der Innenstadt seien auch viele Osteuropäer. Von Kirchbach findet es in Ordnung, in der Stadt zu übernachten, aber nicht unbedingt im Kernbereich.  

Die Stadtspitze sei sich einig, 2017 eine weitere Obdachlosenunterkunft zu bauen, so von Kirchbach. Entscheiden müsse der Gemeinderat. Erst im Dezember hatte die Stadttochter Freiburger Stadtbau GmbH ein neues Gebäude für 32 Menschen ohne Dach überm Kopf fertiggestellt.  

Oase Freiburg

Anlaufstelle: Die Oase in der Haslacher Straße ist eine städtische Notunterkunft – und durchgehend gut besucht.

Andernorts wird das Übernachtungsverbot nicht angewendet. „Stuttgart verbannt niemanden aus der Innenstadt“, heißt es auf chilli-Anfrage aus dem Stuttgarter Rathaus. „Die Übernachtung von Obdachlosen in der Innenstadt stellt für Karlsruhe kein Problem dar“, heißt es aus Nordbaden. Das könnte auch in Freiburg wieder so werden. Wenn sich die Übernachtungen in vernünftigem Ausmaß abspielen, könnten sie in der Innenstadt geduldet werden, sagt von Kirchbach.  

Björn Gondesen ist das mittlerweile egal. Er will nicht mehr in der Kajo übernachten. Komme was wolle.  

Fotos: © Till Neumann