Spuckkasten, Korsettfabrik, Geburtsort unbekannt: Die Freiburger Wurzeln STADTGEPLAUDER | 26.09.2020 | Bernd Serger

Loeb

Das große Warenhaus am Bahnhofsplatz der Schweizer Hauptstadt Bern, inzwischen Wahrzeichen der Stadt und kurz „der Loeb“ genannt, feiert im kommenden Jahr sein 140-jähriges Bestehen – eine merkwürdige Zeitrechnung. Denn eigentlich ist die Firma Loeb viel älter. Nur wissen das die wenigsten – und schon gar nicht, dass die Firma Gebrüder Loeb, so der frühere Name des Unternehmens, in Freiburg im Breisgau gegründet wurde.

Am 3. Juli 1864 eröffnete der gerade 21 Jahre alt gewordene Kaufmann David Loeb in der Egelgasse 240 (heute Rathausgasse 42) das erste kleine Geschäft der Gebrüder Loeb. Wie fast alle großen jüdischen Warenhaus-Unternehmen begannen auch die Loebs mit dem Verkauf von Wolle und Kurzwaren, also von Knöpfen, Bändern, Nadeln, Zwirnen und Schuhbändeln. Im Angebot waren aber auch schon Spielwaren, Spiegel, Taschen, Tabakdosen, Seifen und auch „Spuckkasten von 15 kr“.

Die eigenen Lieferwagen waren auch ohne Waren ein Blickfang.

Szenen einer Unternehmensgeschichte: David Loeb hatte in Freiburg die Geschäfte geführt.

Eugen Loeb, Eduard Loeb, der kleine François und Victor Loeb (v.l.) bei einer Vier-Generationen-Aufnahme von 1941.

Neu an diesem Gemischtwarenladen mit „tausenden anderen Artikeln“ war, dass die Waren nur zu „unbedingt festen Preisen“ zu haben waren – unerhört für die damalige Zeit, wo sonst in den Detailgeschäften die Preise nach Einschätzung der Kaufkraft der Kunden frei festgelegt wurden. Mit David Loeb hatte Moses Loeb (1814–1906) den ältesten seiner vier Söhne aus dem kleinen Dorf Nieder-Wiesen bei Alzey (Mosel) vorgeschickt, um in Freiburg herauszufinden, ob sich dort ein Geschäft lohnen könnte.

Dass Sohn David, wie eine Eintragung im heimatlichen Gemeindearchiv nahelegt, tatsächlich bereits 1857, also mit 14 Jahren, nach Freiburg kam, ist möglich. Er könnte hier eine Lehre gemacht haben. Fest steht aber, dass der Firmenname „Gebrüder Loeb“ in Freiburg nie richtig eingelöst wurde, denn es waren eigentlich nur David Loeb und später für kurze Zeit sein Bruder Eduard (1851–1942), die sich im Breisgau niederließen. Die anderen Brüder Justus, später Julius Loeb (1848–1926), und Ludwig, später Louis Loeb, Jahrgang 1846, schickte der Vater wohl noch von Nieder-Wiesen aus auf die Märkte in Baden und vor allem in der Schweiz.

Alle Dokumente vernichtet

Warum die Schweiz? Nun, die Familie Loeb stammt eigentlich aus Durmenach an der Schweizer Grenze, auch das „Jerusalem des Sundgaus“ genannt, wo 1840 noch 75 Prozent der Einwohner Juden waren. Zu jener Zeit lebten die Loebs aber schon in Nieder-Wiesen – sie hatten sich als Franzosen, im Gefolge der Truppen Napoleons, um 1810 an der Mosel niedergelassen. „Und als Napoleon verjagt wurde, mussten die Loebs das machen, was die Flüchtlinge heute machen: nämlich alle Dokumente vernichten“, erzählt heute François Loeb, der von 1975 bis 2002 das Warenhaus Loeb in Bern in der fünften Generation geleitet hat und heute mit seiner Frau in Merzhausen bei Freiburg lebt.

Loeb

Unternehmer: François Loeb mit seiner Tochter Nicole Loeb-Furrer, die heute in sechster Generation die Geschäfte führt.

„Des Lesens und Schreibens nicht kundig, Geburtsort unbekannt“ – so las sich das dann in den Akten. „Kaufleute, die nicht lesen können! Das muss man sich vorstellen“, erzählt François Loeb mit einem Lächeln über seine Vorfahren, die in Nieder-Wiesen offensichtlich nicht als kaisertreue Napoleon-Anhänger dastehen wollten.

Also die Schweiz. Die ersten Spuren hinterließ wiederum David Loeb, der sich am 24. November 1867 mit einer Anzeige im „Intelligenzblatt für die Stadt Bern“ zur Premiere auf dem Berner Herbstmarkt ankündigte. Er hatte sich für die zwei Wochen in der Kramgasse in einen Laden eingemietet (die Inhaberin zog sich mit ihren Waren in die hinteren Räume zurück) und bot an, was er auch in Freiburg zu verkaufen hatte. Und das erst mal unter seinem eigenen Namen.

Loeb

Früher Loeb, heute Seilnacht:
Rathausgasse 9.

Doch in den 1870er-Jahren waren auch die jüngeren Brüder alt genug, um selbst die Märkte in der Schweiz zu bereisen – und zwei von ihnen, Julius Loeb 1874 in Basel und Louis Loeb 1876 in Zürich, ließen sich dort als Erste mit ihren Geschäften auch richtig nieder: die Gebrüder Loeb hatten in der Schweiz Fuß gefasst. 1881 eröffnete dann auch David Loeb in der Spi­talgasse in Bern ein richtiges Geschäft – er überließ es aber für die nächsten zehn Jahre einer Angestellten, da er in Freiburg, am Hauptsitz der Gebrüder Loeb, noch sehr aktiv war. Und das über lange Zeit mit Erfolg.

So konnten die Gebrüder Loeb, die 1871 mit ihrem Laden in die Eisenbahnstraße 9 (heute Uhren Seilnacht, Rathausgasse 9) umgezogen waren, wenig später das Gebäude samt dem Hinterhaus zur Turmstraße für 25.000 Gulden erwerben. „Das Geld dafür müssen sie in der Schweiz gemacht haben“, meint François Loeb, der an den strategischen Fähigkeiten seiner Vorfahren, was Freiburg angeht, ­dennoch etwas zweifelt: „Ein Konzept ist da nicht so recht zu erkennen. Einerseits wollten sie die billigsten Preise anbieten, dann wollten sie wieder an den Adel verkaufen.“

Zahnlücke weicht Sandstein

1876 folgte Vater Moses Loeb seinem Sohn David nach Freiburg. Er wurde dort gebraucht, denn 1880 erwarben die Gebrüder Loeb an der Klarastraße 2a ein Grundstück für eine Korsettfabrik – mit fortschrittlichem Dampfbetrieb, sodass die etwa 50 Näherinnen die Maschinen nicht mehr durch anstrengendes Treten bedienen mussten. Als Chef der Fabrik fungierte Eduard Loeb, der jüngste Sohn, der 1884 nach Freiburg kam. Angeboten wurden die Korsetts in der Eisenbahnstraße 9 und in einem eigens angemieteten Laden an der Kaiserstraße 75 (heute Galeria Kaufhof), wo dann Moses Loeb gleich auch eine Wohnung nahm.

Ihre „echt Fischbein“ – und Uhrfedern-Korsetts boten die Gebrüder natürlich auch in ihren Schweizer Filialen an, doch es half nichts. Als David Loeb sich 1891 entschloss, mit seiner Familie nach Bern zu ziehen und das dortige Geschäft nun selbst zu übernehmen, wurde neben den beiden Läden auch die Korsettfabrik in Freiburg geschlossen. Das Kapitel Freiburg war nach 27 Jahren beendet – nicht gerade glorreich.

Loeb

Avis für Damen: Erste Anzeige in der
Freiburger Zeitung, 1864

Vielleicht war den Loebs die Konkurrenz in Freiburg zu heftig geworden – unter anderem das 1887 gegründete, aufstrebende Warenhaus von Sally Knopf in der Kaiserstraße 32. Dem jüdischen Kaufmann sollten die Loebs in Bern wieder begegnen: 1897 eröffnete Knopf am Bahnhofsplatz in Bern, direkt neben David Loeb, eine große Filiale – bis 1914 kam Sally Knopf auf ein knappes Dutzend Niederlassungen in der Schweiz, auch das eine wenig bekannte Freiburger Erfolgsgeschichte.

Es blieb aber David Loeb überlassen, 1899 mit dem Umbau und der Erweiterung seines Geschäfts zwischen Spitalgasse und Schauplatzgasse das erste richtige Warenhaus im bis dahin etwas rückständigen Bern zu präsentieren – mit allem, was Warenhäuser damals nach französischem Vorbild so ausmachte: große Schaufenster auch in den Obergeschossen, elegante Treppen, Licht durch einen Lichthof – und 1905 kam dann noch ein mit Wasserkraft betriebener Aufzug dazu. Die Berner verhöhnten die moderne Glasfassade jedoch als „Zahnlücke“, die Jahre später dem Berner Sandstein weichen musste.

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Erstes Loeb-Geschäft: Das Haus zum geilen Fisch in der Rathausgasse 42.

Auf dem Dach prangte der Schriftzug „Gebrüder Loeb“, aber im Lauf der Jahre wurden sich die Brüder doch zunehmend fremd. Bis auf Eduard Loeb. Er hatte bereits 1887 in Genf eine Filiale der „Gebrüder Loeb“ aufgemacht, entschloss sich aber bereits 1905 zu privatisieren, investierte zudem in eine Zeitung und eine Rollschuhbahn und hielt weiter Kontakt, besonders nach Bern.

Neben Basel (1874 gegründet), Mülhausen im Elsass (ebenfalls 1874), Zürich (1876), St. Gallen (1879), Bern (1881, für Loeb heute das offizielle Gründungsjahr) gab es weitere ­Filialen in Winterthur (1884), Genf (1887), Luzern (1888), Schaffhausen (1890), Biel (1891 bis 1894), Lausanne (1894), Thun (1912) und Davos (1917 bis 1926). Bis auf Thun wurden alle Filialen im Lauf der Jahrzehnte, zum Teil nach Jahrzehnten, wieder aufgegeben – die Loebs taten sich nie schwer, sich von Geschäften zu trennen, die ihre Erwartungen nicht erfüllten.

Das galt auch für François Loeb, der 1975 nach dem überraschenden Tod seines Vaters Victor die schlingernde Firma vor dem Verkauf rettete. Er leitete später noch eine Kette von Filialen mit rund 1000 Beschäftigten, von der außer Bern und Thun nur noch die von ihm neu geschaffene Filiale Biel übrigblieb.

Seine 1967 geborene Tochter Nicole Loeb-Furrer, die seit 2005 die Loeb AG nun in sechster Generation leitet, hat heute noch rund 300 Mitarbeiter um sich, dafür aber 2019 das Haupthaus in Bern mit seinen 10.000 Quadratmetern Verkaufsfläche für zig Millionen Franken um­gebaut und erweitert.

François Loeb, der sich in der Schweiz nicht nur als „Warenhüsler“, sondern auch als freisinniger Politiker im Nationalrat mit seinen Ideen und Kampagnen einen Namen gemacht hatte, hat nach seinem Ausscheiden aus der Firma, angestupst von Friedrich Dürrenmatt, sein schriftstellerisches Talent entdeckt.

Er veröffentlicht ein Buch nach dem anderen, schreibt in einem Blog jede Woche eine Kurzgeschichte (www.francois-loeb.com) – und sieht seine Tochter aus der Ferne auf einem guten Weg. Nicht nur, dass sie es geschafft hat, das uralte Loeb-Prinzip vom Shop-in-Shop-System wieder aufleben zu lassen: 50 Prozent der Verkaufsfläche sind an Spezial-Marken vermietet. „Sie will aus Loeb das persönlichste Warenhaus der Schweiz machen – das sehe ich als ein gutes Rezept, um das schon so oft angekündigte Ende der Warenhäuser zumindest im Fall Loeb zu verhindern.“

 

Fotos: © Fotos oben (v. l. n. r.): Archiv für Zeitgeschichte ETH Zürich, BA-BASJ-Archiv 364,2; 379, 7; 379, 1 (Sammlung Serger), Bernd Serger, Archiv François Loeb, 2 (Sammlung Bernd Serger), Bernd Serger, Freiburger Zeitung