„Das ist kein Loch“: Kollektiv will mit Vulva-Kalender und „Museum to go“ entstigmatisieren Szene | 19.07.2021 | Paulina Flad

Vulvaversity Abreiß-Kalender 2.0: Fokus auf divers.

Nach dem Erfolg im vergangenen Jahr bringt das Freiburger Kollektiv Vulvaversity einen zweiten Abreiß-Kalender raus. Er zeigt 365 Vulva-Fotos, noch diverser als bisher. Im Interview spricht chilli-Autorin Paulina Flad mit Aktivistin Indra Küstner (30) über Diversität, zitternde Knie und ein neues Museum to go.

chilli: Wie waren die Reaktionen auf den ersten Kalender?
Küstner: Die Rückmeldung war vor allem, dass Leute keinen Kalender bekommen haben, die gerne einen gehabt hätten. Wir wussten ja überhaupt nicht, wie die Nachfrage sein wird. Bei der Releaseparty waren die 750 Kalender ausverkauft. Der Kalender hat viel bewegt bei Menschen.

chilli: Inwiefern?
Küstner: Ich merk’s ja an mir selbst. Ich habe den Kalender auch. Der verändert auf jeden Fall. Dadurch, dass man jeden Tag ein Blatt abreißt, hat man täglich ein Vulva-Bild in der Hand. Das ist irgendwie anders, als wenn man ein Buch im Regal stehen hat, weil man immer damit interagiert.

chilli: Hat sich durch das Projekt Ihre Wahrnehmung der Vulva verändert?
Küstner: Ja. Einmal durch die Informationen, die wir uns angelesen haben, aber noch mehr durch die 400 bis 500 Fotos, die wir inzwischen gemacht haben, und die damit verbundenen Gespräche. Manche kommen mit zitternden Knien, manche brauchen einen ganzen Tag, um zu entscheiden, ob sie ein Foto machen wollen, und wieder andere springen bei uns rein und sagen: „Super Projekt! Ich mache sowas schon immer mit.“ Und dann Vulva-Posing machen. Es kommen aber auch Menschen mit Missbrauchs- und Gewalterfahrungen oder Menschen, die lange dachten, sie wären irgendwie nicht normal oder krank, weil sie nicht wussten, dass Vulven sich verändern in der Pubertät.

Indra Küstner

Betreibt Aufklärung: Indra Küstner von „Vulvaversity“.

chilli: Wo liegt das Problem?
Küstner: Es gibt keine Bilder und keine Aufklärung. Der Unterricht bezieht sich meist auf die Gebärmutter. Aufklärungsbücher zeigen da, wo die Vulva ist, ein Loch. Aber das ist ein Organ, das ist kein Loch.

chilli: Das Besondere am neuen Kalender?
Küstner: Wegen Corona haben wir es beim ersten nicht geschafft, mehr auf Diversität zu achten. Das ist uns total wichtig: Vulven der Gesellschaft abzubilden. Das ist jetzt ein Fokus.

chilli: Was hat es mit dem Vulva-Museum to go auf sich?
Küstner: Wir haben viele Anfragen bekommen von Menschen, die den Kalender oder die Bilder für Aufklärungsarbeit nutzen wollen, von Gynäkologen zum Beispiel. Deswegen haben wir uns eine zweite Möglichkeit überlegt: ein Vulva-Museum to go. Das ist ein kleines Fächerbuch mit 60 Fotos. Zu jedem Foto gibt es noch ein paar Informationen. Zum Beispiel: Wie alt ist die Person? Hat die Person schon geboren? Ist die Person beschnitten? Um zu sehen, wie divers Vulven sind. Das wissen die Allerwenigsten. Etwa, dass sich durch eine Geburt das Aussehen verändern kann oder auch nicht. Dass man nicht sieht, ob Menschen 60 oder 20 sind.

chilli: Wenn alle Vulven anders aussehen, warum dann mehr Diversität?
Küstner: Gerade für das Museum to go, wo wir die Vulva in einen Kontext setzen, ist es spannend, zu zeigen: Wie können sich Vulven verändern? Wie sieht es aus, wenn eine Vulva hinoperiert wurde? Wie sieht es aus, wenn jemand fünf Kinder geboren hat? Wie sieht es aus, wenn jemand 85 ist? Wir haben das Gefühl, dass es explizit für Aufklärungsarbeit wichtig ist, dass alles inkludiert wird. Aber auch für den Kalender ist es uns wichtig, zu wissen, dass wir nicht nur eine kleine Blase abbilden, sondern dass wir wirklich die Gesellschaft zeigen.

Info
Crowdfunding
Die Crowdfunding-Kampagne für Kalender und Museum to go geht bis zum 1. August. Bis dahin kann beides vorbestellt werden. Gedruckt werden alle vorbestellten Exemplare. Lieferung ist im Oktober. Für den neuen Kalender hat das Kollektiv zwei Fotoshootings veranstaltet. Fotoshootings sind in Einzelfällen weiterhin möglich.
Webseite: www.startnext.com/vulvaversity2022

Fotos: © Vulvaversity-Kollektiv