Hoffen und bangen: Wie es Betroffenen vor der Veröffentlichung des Freiburger Missbrauchsberichts geht Szene | 28.03.2023 | Till Neumann

Messdinerklamottn Großes Leid: Missbrauchsopfer der katholischen Kirche haben viel mitgemacht. Wie geht das Erzbistum damit um?

Der 18. April ist ein entscheidender Tag für Missbrauchsopfer der katholischen Kirche. Die Erzdiözese Freiburg stellt den Abschlussbericht zu Missbrauch vor. Warum Betroffene nicht nur hoffen, weiß Sabine Vollmer. Die 50-Jährige ist selbst Opfer und leitet den Freiburger Betroffenenbeirat. Ihr Name ist ein Pseudonym, telefonieren möchte sie nur über eine anonyme Leitung. Im Interview mit Till Neumann berichtet sie von quälenden Fragen, intransparenten Finanzen und einem neuen Umgang.

chilli: Frau Vollmer, mit welchem Gefühl blicken Sie auf die Veröffentlichung?

Vollmer: Mit einem mulmigen. Weil man nicht recht weiß, welche Lawine damit losgetreten wird. Natürlich ist es ein Tag, dem man schon lange entgegenfiebert. Gleichzeitig wissen wir aber nicht, was genau veröffentlicht wird und wie mit den Informationen umgegangen wird. Im privaten Umfeld genau wie durch Kirche und Öffentlichkeit.

chilli: Wissen Sie, was im Abschlussbericht der AG Aktenanalyse stehen könnte?

Vollmer: Es ist eigentlich klar, was man zu erwarten hat. Nichts, was wir Missbrauchsbetroffene nicht schon immer gesagt haben: nämlich, dass vertuscht wurde. Was interessant wird: Wer war alles am System der Vertuschung beteiligt? Warum hat es so gut funktioniert? Und welche Konsequenzen werden daraus gezogen?

chilli: Betroffene verbinden große Hoffnungen mit dem Bericht, schreibt Ihr Beirat. Welche sind das?

Vollmer: In erster Linie, dass Betroffene Antworten auf schon seit Jahren quälende Fragen erhalten. Zudem dass die Wahrheit ans Licht kommt, wie das Macht- und Vertuschungssystem funktioniert hat. So wird mehr Glaubwürdigkeit für die Opfer erreicht. Es geht auch darum, dass ihnen Schuldgefühle genommen werden. Weil dadurch ganz klar ist: Der Täter und die Mittäter, die sie gedeckt haben, sind schuld – nicht das Opfer.

chilli: Was stimmt Sie optimistisch, dass das klappt?

Vollmer: In der Erzdiözese tut sich viel seit Erscheinen der MHG-Studie zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche. Seitdem wird gehandelt. Und da hat sich in Freiburg für die Betroffenen einiges zum Guten gewandelt.

chilli: Können Sie uns ein Beispiel geben?

Vollmer: Es gibt eine Art „Opferrente“. Eine monatliche Unterstützung für Personen, die erwerbsmindernd geschädigt sind und deshalb mit einem niedrigen Einkommen auskommen müssen. Das ist wirklich eine gute Sache. Es gibt auch Unterstützung für Therapien und eine Anlaufstelle für psychologische Beratung.

chilli: Was soll sich im Umgang der Kirche mit dem Thema ändern?

Vollmer: Wir vom Beirat erwarten, dass aufgezeigt wird, welche Strukturen Missbrauch begünstigt haben. Wenn Fehler aufgezeigt werden, dann müssen die behoben werden. Und das nicht erst in zehn Jahren, sondern so schnell wie möglich.

chilli: Wie viele Betroffene vertreten Sie denn im Beirat?

Vollmer: Wir wissen von etwa 600 Betroffenen im Erzbistum Freiburg. Das ist quasi nur die Spitze des Eisbergs. Wegen Schuld- und Schamgefühlen äußern sich viele nicht. Vielleicht vertreten wir diese sogar noch mehr, indem sie nun durch den Bericht schwarz auf weiß nachlesen können: Nicht sie sind schuld, sondern die Täter. Die Kirche ist schuld. Es ist uns ein großes Anliegen, dass Betroffene, die sich noch nicht gemeldet haben, den Mut finden, Hilfe zu holen, um ihr Leben noch ein bisschen heilen zu können.

chilli: Sie fordern ehrliche, transparente und zügige Aufklärung. Kann die Erzdiözese dem gerecht werden?

Vollmer: Ich würde es nicht vorschlagen, wenn ich es nicht hoffen und wünschen würde. Die Kirche will Glaubwürdigkeit zurückbekommen. Das geht nur mit Transparenz, Ehrlichkeit und Einbindung der Betroffenen. Es ist in jedem Fall ein Wandel im Umgang mit den Betroffenen festzustellen.

chilli: Woran machen Sie das fest?

Vollmer: Wir als Beirat sind deutlich mehr eingebunden. Viele Betroffene haben schon ein Gespräch mit Erzbischof Stephan Burger erhalten. Die Türen stehen offener.

chilli: Eine Videobotschaft des Vorgängers Robert Zollitsch hat im Oktober für Ärger gesorgt. Sie haben das eine „bedrohliche Machtdemonstration“ genannt, die eine Welle der Ohnmacht ausgelöst hat. Warum?

Vollmer: Das Video hat uns schlaflose Nächte bereitet. Im Prinzip hat er verkürzt gesagt: Es tut mir leid, aber ich kann nix tun. Das stimmt einfach nicht. Man kann das Geschehene nicht rückgängig machen, aber man kann immer wieder etwas Gutes tun für die Betroffenen und so wenigstens einen Teil des Leids lindern.

chilli: Es gibt Entschädigungszahlungen von etwa 5000 bis 50.000 Euro. Finden Sie das in Ordnung?

Vollmer: Es gibt teilweise auch mehr als 50.000 Euro. Aber die meisten bekommen deutlich weniger. Ich kenne viele Opfer, die unter 10.000 Euro erhalten haben. Das ist lächerlich mit Blick auf die Folgen, die sie ein Leben lang begleiten.

chilli: Wissen Betroffene, warum das so ist?

Vollmer: Nein, das ist genau das Problem. Sie bekommen mit dem Bescheid keine Erläuterung. Seit diesem Jahr kann man Widerspruch einlegen. Aber wie wollen sie dagegen argumentieren, wenn sie keine Details haben? Wir kritisieren immer wieder, dass es keine transparenten Kriterien gibt.

chilli: Zusammengefasst: Was ist Ihr größter Wunsch für den Bericht?

Vollmer: Ich wünsche mir für die Betroffenen, dass sie ihre Fragen beantwortet bekommen. Viele quälen sich über Jahre mit Warum-Fragen. Warum ist ein Brief untergegangen? Warum hat mir keiner geglaubt? Warum wurde der Priester versetzt? Ein zweiter Aspekt ist, dass Konsequenzen gezogen werden – im Sinne der Betroffenen. Ich wünsche mir, dass die Kirche moderner und demokratischer wird.

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