Rebellen im Rieselfeld: Wie eine Gemeinde in Freiburg zum Hotspot des Kirchenprotests wird STADTGEPLAUDER | 20.08.2021 | Till Neumann

Sind sauer: die Freiburger Pfarrgemeinderäte Luis Haber (links) und Felix Sumbert.

Das Standesamt in Köln ist überrannt worden von Menschen, die aus der Kirche austreten möchten. Auch in Freiburg klettert die Zahl der Abtrünnigen auf Rekordhöhe. Immer mehr seien „Überzeugungsaustritte“, berichtet der Freiburger Pfarrer Siegfried Huber, der im März einen Social-Media-Coup landete. Der Protest wächst – auch in Reihen der Freiburger Kirchengemeinde. Das Rieselfeld entwickelt sich dabei zum Kern des Widerstands.

Wer die Kirche Maria-Magdalena im Rieselfeld betritt, sieht schnell: Hier ist etwas anders. Der Innenraum des Betonklotzes hat weder Kirchenbänke noch verzierte Fenster oder einen auffälligen Altar. Holzstühle reihen sich in dem schlichten Interieur aneinander, nur die Gemälde einer Kunstausstellung bringen etwas Farbe in den Raum.

„Dramatische Entwicklung“

Protestanten und Katholiken sind hier zu Hause. Gebetet und gefeiert wird oft Seite an Seite – Katholische und Evangelische sitzen bunt gemischt auf den Stühlen. Das berichten Felix Sumbert (25) und Luis Haber (25) nicht ohne Stolz. Die beiden sind hier Pfarrgemeinderäte und haben von sich reden gemacht: Als Trio schrieben sie im April mit ihrem Kollegen Felix Lamprecht einen offenen Brief an Freiburgs Erzbischof Stephan Burger.

Die Brandschrift hat’s in sich: Sie bemängeln die „dramatische Entwicklung in der katholischen Kirche“. Die Mehrheit der jungen Menschen in ihrer Gemeinde erwäge einen Austritt. Die Gründe: diskriminierende Ansichten, veraltete Sexualmoral und völlige Intransparenz bei der Missbrauchsaufklärung in Köln. Sie fordern daher radikale Änderungen.

„Absolut verachtenswert“ nennen sie die Haltung der Amtskirche beim chilli-Gespräch vor ihrer Kirche. Vollkommen marode und altbacken seien die Positionen zu Frauen und Homosexuellen, dem Zölibat und den Missbrauchsskandalen. Für die drei ist der Brief ein letzter Versuch, bevor sie von Bord eines sinkenden Schiffs gehen. Seit ihrer Kindheit sind sie Teil der Kirche. Ihr Schreiben enden sie mit: „Wir wollen unsere Kirche nicht kommentarlos mit einem Kirchenaustritt verlassen.“

Bischof rudert zurück

Auch für Maria 2.0 brechen sie im Brief eine Lanze. „Deren überfällige Forderungen zur völligen Gleichberechtigung von Mann und Frau müssten endlich erhört werden.“ Und siehe da: Deren Freiburger Keimzelle ist ebenfalls in der Maria-­Magdalena-Kirche. Sprecherin der Initiative ist Gabriele Schmidhuber. Mehr als 40 Jahre lang ist sie schon in der Kirche aktiv, erzählt die 53-Jährige in einem Rieselfelder Café. „Wir haben schon vor 30 Jahren über die gleichen Themen gestritten. Bewegt hat sich wenig.“

Über die Amtskirche ärgert sie sich maßlos: Deren Haltung „widerspricht zutiefst meinen Überzeugungen von Freiheit und von der Gleichheit von Menschen“. Erzbischof Burger wirft sie eine „Teflonpolitik“ vor. Er sage zwar, er verstehe ihr Anliegen, es passiere aber nichts. „Es ­perlt alles ab“, kritisiert Schmidhuber.

Kirche

Organisiert den Protest der Frauen in Freiburg: Gabriele Schmidhuber

Bei ihrem Maria-2.0-Protest bei einer Priesterweihe 2019 auf dem Münsterplatz waren rund 800 Menschen dabei. Daraufhin habe es zwei Gespräche mit Burger gegeben, erzählt Schmidhuber. Anfangs habe er dem Wunsch nachkommen wollen, ihren Forderungen in der Bischofskonferenz Ausdruck zu verleihen. Dann sei er zurückgerudert. Die Aktivistin ist überzeugt: Wenn die Kirche das Ruder nicht rumreißt, werden viele Gläubige Abschied nehmen. Auch bei ihr fehle nicht mehr viel. Am Ende blieben nur noch alte weiße Männer.

„Herr, du machst mich würdig“

Ein Grund, in der Kirche zu bleiben, ist für sie und die drei Pfarrgemeinderäte die Gemeinde im Rieselfeld. Dort werde der Glaube gelebt, wie sie es sich wünschen: flache Hierarchien, Akzeptanz Homosexueller, mehr Verantwortung für Frauen. Gebetet werde beispielsweise nicht das unterwürfige „Lamm Gottes“. Statt „Herr, ich bin nicht würdig“ sagen sie „Herr, du machst mich würdig“.

Hinter all dem steht Pfarrer Siegfried Huber. Der 42-Jährige leitet die Katholische Kirchengemeinde Freiburg Südwest mit den Pfarreien Haslach, Weingarten und Rieselfeld. Die drei jungen Pfarrgemeinderäte nennen ihn „Siggi“ und sind schwer begeistert. „Wäre es möglich, aus der Amtskirche auszutreten und hier einzutreten, würden das 90 Prozent der Rieselfelder machen“, sagt Felix Sumbert.

Kirche

Segnet auch homsexuelle Paare: Pfarrer Siegfried Huber

Facebook-Post geht viral

Zu überregionaler Bekanntheit kam Pfarrer Huber im März. Da postete er auf Facebook das Foto, wie er zwei Frauen traut – außerhalb der Kirche. Mehr als 500 Mal ist das Bild geteilt worden. In fast 400 Kommentaren gibt es Beifall und Anfeindungen.

Auch in seinen drei Gemeinden stehen gleichgeschlechtlichen Paaren die Türen offen, berichtet er in seinem Büro in Weingarten. Schon seit Jahren lädt er sie zu Segnungsgottesdiensten ein. Kirchenrechtlich ist das verboten, Huber tut es dennoch: „Wir fragen in erster Linie, was seelsorgerisch wichtig ist, und in zweiter Linie nach dem Kirchenrecht.“ Probleme mit der Erzdiözese habe er deswegen nicht.

„Da ist mir der Kragen geplatzt“

„Ich fühle mich ohnmächtig“, sagt Huber zu Skandalen wie um den Kölner Kardinal Wölki, der Missbrauchsuntersuchungen zurückhält. Immer mehr, die sich von der Kirche abwenden, ­seien „Überzeugungsaustritte“. Dennoch macht Huber seinen Job gerne: „Ich kann mich tierisch aufregen über vieles, ich beruhige mich aber, wenn ich mich hier auf meinen Job fokussiere.“ Er habe jeden Tag das Gefühl, Gutes tun zu können.

Anlass für den viralen Facebook-Post war das „Segnungsverbot“ für homosexuelle Paare, das der Vatikan im März bekräftigt hat. „Da ist mir der Kragen geplatzt“, erzählt Huber. Auch für die drei Pfarrgemeinderäte war das Maß voll: Sie schrieben den offenen Brief. Huber ist dennoch überzeugt, dass die Trauung Homosexueller möglich wird: „Ich gehe davon aus, es noch zu erleben.“ Hoffnungsvoll stimmen ihn auch Aktivist·innen wie die aus dem Rieselfeld: „Es wird freimütig diskutiert, ein Widerspruchsgeist macht sich breit.“

Rekord bei Austritten

Für Erzbischof Burger findet er überraschend lobende Worte: Da dieser sich kaum zu strittigen Themen äußere, halte er ihm den Rücken frei für den Weg zu einer offeneren Kirche. Als Exot sieht sich Huber nicht: Rund die Hälfte der Pfarrer im Erzbistum Freiburg seien offen für die Segnung homosexueller Paare.

Bei Felix Sumbert und Luis Haber dominiert dennoch Enttäuschung: Sie wünschen sich von Burger mehr Engagement und Haltung. Auf ihren offenen Brief hatte er zunächst nicht geantwortet. Erst auf Anfrage der Badischen Zeitung reagierte der Erzbischof mit einem Rückschreiben, das dem chilli vorliegt. Darin zeigt er Verständnis für deren Anliegen, verzichtet jedoch auf klare Zusagen.

Kirche

Hüllt sich oft in Schweigen: Freiburgs Erzbischof Stephan Burger.

Austritte auf Rekordkurs

Nichtsdestotrotz scheint das Trio Gehör zu finden: Anfang Juli sprachen sie beim Erzbistum-Live­stream „#weiterhandeln – Dein Dinnerdate mit Erzbischof Stephan“ mit Burger. Sumbert fragte ihn, wie er als Mensch zum Frauenpriestertum stehe. Burger daraufhin: „Ich tue mir schwer damit.“ Das Thema brenne vielen unter den Nägeln, er bekomme aber auch Zuschriften von Gegnern. Sein Ziel sei daher, „den Laden zusammenzuhalten“.

Sumbert fühlt sich ernst genommen, ist aber „etwas enttäuscht“. Burger stelle sich Änderungen nicht in den Weg, treibe diese aber auch nicht an. Ein Blick auf die Zahlen des Freiburger Standesamts zeigt, wohin das führen kann: Bis zum 11. August sind in diesem Jahr schon 1959 Personen aus der Kirche ausgetreten. Im Rekordjahr 2019 waren es insgesamt 2034. Der Rekord wird damit sicher geknackt.

Burgers Schweigen zeigt sich auch bei der Recherche. Zwei chilli-Interviewanfragen lehnt die Pressestelle mit Verweis auf den vollen Kalender Burgers ab. Die Redaktion hat ihm vier Wochen Zeit gegeben.

Fotos: © Till Neumann, Erzdiözese freiburg

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