Brandrede für Europa – Günther Oettinger findet für die Krisen Europas deutliche Worte Verbände | 10.12.2024 | David Pister
Günther Oettinger: Warnung vor einem weltweiten hybriden KriegBaden-Württembergs ehemaliger Ministerpräsident Günther Oettinger rüttelt bei einer Veranstaltung des Wirtschaftsverbands Industrieller Unternehmen in Baden (WVIB) sein Publikum wach: Europa sei bedroht und müsse unbedingt zusammenhalten. Auch die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands sieht der ehemalige Spitzenpolitiker in Gefahr.
„Wir sollten die Jungen rausschicken. Ihr Spielfeld wird Europa sein“, sagt Günther Oettinger. Als er sich 1972 nach dem Abitur für einen Studien-standort entschied, hat er die Wahl gehabt. Heimspiel in Tübingen oder Auswärtsspiel in Heidelberg. Heute sei das anders: „Europa ist der Platz für das Heimspiel. Wir sollten unsere Kinder als Europäer erziehen.“
Wohin steuert Europa? Diese Frage stellte sich der WVIB und lud zur Beantwortung den 71-jährigen Oettinger ein. WVIB-Präsident Bert Sutter machte gleich zu Beginn seine Einstellung zur EU deutlich: „Wenn es sie nicht gäbe, müsste man sie erfinden.“ Leider gebe es auch vieles, das nicht so gut laufe: kein Konsens in der Sicherheitspolitik, keine gemeinsamen Lösungen für den Klimawandel und ein bürokratisches Korsett für Unternehmen. Damit übergab er an Oettinger.
In gewohnt schwäbisch-zackiger Art und mit Spitzen in Richtung Ampelregierung, Parteikollegin Ursula von der Leyen und den allgemein herrschenden Zeitgeist zeichnete der ehemalige Spitzenpolitiker ein düsteres Bild der aktuellen Weltlage. Doch er sprach auch von Potenzialen und davon, dass es sich lohne, für Europa einzustehen.
Vor fünf Jahren hat sich Oettinger aus der Politik verabschiedet. Nach einer beachtlichen Karriere: Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, EU-Kommissar. An Ruhestand denkt Oettinger aber noch lange nicht. Er ist Geschäftsführer einer Beratungsfirma, sitzt in Aufsichtsräten und ist Präsident einer hessischen Privathochschule.
Oettingers größtes Thema an diesem Abend: der Kampf der Systeme. Nordkoreanische Soldaten, Drohnen aus dem Iran, Dual-Use-Güter aus China: Beim russischen Angriffskrieg werde der Kampf von Autokratie gegen Demokratie sichtbar. „Der Krieg gegen die Ukraine ist ein Krieg gegen uns“, so Oettinger. Längst befinde man sich in einem weltweiten hybriden Krieg. Russland stecke das wenige Geld, das es habe, in den Krieg. Und Deutschland? „Die Feuerwehr und der Schützenverein sind wehrhafter als die Bundeswehr.“
Natürlich geht es auch um die Wirtschaft. „Sanktionen machen nur Sinn, wenn wir etwas haben, was die anderen brauchen“, sagt Oettinger. Deutschland sei nicht mehr der „Ausrüster für die Welt“ – bekannt für Tüftelei und Präzision. Oettinger sieht den Industriestandort Deutschland in Gefahr. Wegen hoher Energiepreise und bürokratischer Hürden wanderten Unternehmen ab – das Geld gehe ins Ausland. Außerdem werde die deutsche Gesellschaft immer älter. Fachkräfte fehlen. „Die Warnlampen müssen an. Wir gehen den Bach runter“, sagt er.
Ob Wettbewerbsfähigkeit oder Umweltschutz: Solche Themen könne man nur im europäischen Team angehen. „Aber bitte nicht überreguliert“, fügt Oettinger hinzu. Deutschland und die EU befinden sich aktuell in einer schwierigen, aber chancenreichen Zeit. Oettinger ruft zum Mut zur Zumutung auf: „Wir brauchen einen Aufbruch. Nicht nur auf dem Kasernenhof, auch auf dem Münsterplatz“, so Oettinger. WVIB-Geschäftsführer Christoph Münzer, der die anschließende Fragerunde moderiert, fasst Oettingers Vortrag zusammen: „Das Problem sind nicht die anderen. Das Problem sind wir.“
Nach der Rede wirken die meisten euphorisiert. Auf der Treppe zu Wein und Essen schüttelt ein Zuhörer fassungslos den Kopf. „Fantastisch“, bringt er heraus.
Foto: © WVIB