Verbotene Rettung: Unterwegs mit einer Studentin, die containert Wirtschaft | 20.06.2022 | Helena Müller

Unter Kapuzenpullover verborgene Person sotiert auf dem Boden verschiedene Lebensmittel

Es ist illegal. Trotzdem machen sich viele Menschen nachts auf den Weg zum Abfallcontainer von Supermärkten. Sie wollen Lebensmittel vor dem Wegwerfen retten. Auch die Freiburger Studentin Anna Schmitt (Name geändert) geht containern. f79-Autorin Helena Müller hat sie bei dem adrenalingeladenen Raubzug begleitet.

22.03 Uhr. Laternen beleuchten die spärlich befahrene Straße, die Läden sind längst geschlossen. Die dunkel gekleidete Person hat die Kapuze tief im Gesicht. Kaum erkennbar geht sie mit einer Ikea-Einkaufstüte in der Hand eine Seitengasse entlang. Auf der linken Seite stehen Autos, auf der rechten Abfallcontainer. Zügig geht sie in eine Ausfahrt und steigt eine Leiter empor. Auf dem Plateau sind zwei Restmülltonnen, Müllsäcke liegen zwischen den Paletten. Eine Lampe erhellt die Nacht.

Der Puls schießt in die Höhe, nochmal ein flüchtiges Umschauen, dann öffnet sie eine der beiden Tonnen. Sofort steigt ein beißender, verfaulter Geruch in die Nase. Maden kriechen zwischen einer verschimmelten Orange und verwelkten Rosen umher; die kleinen weißen Körper können sich kaum bewegen. Braunes Wasser steht in einer Plastiktüte, die 500 Gramm Kohl umhüllt. Unbrauchbar. Die Klappe fällt wieder zu.

Die nächste Tonne entlarvt sich als Fundgrube: Noch in Beuteln verpackt liegt Obst auf- und nebeneinander. Von Avocados über Orangen bis hin zu Süßigkeiten ist alles dabei. Das Verfallsdatum? Noch nicht überschritten. Ein Lächeln macht sich auf dem Gesicht von Anna Schmitt breit. Der heimliche Besuch der Norma-Filiale hat sich gelohnt.

Jetzt muss es schnell gehen. In raschen Bewegungen füllt sich die Tüte, bis sie randvoll ist. „Containern geht immer mit einem lachenden und einem weinenden Auge einher“, sagt die 22-Jährige. Die Freude über die kostenlosen Lebensmittel ist groß. Die Trauer aber auch: Rund 12 Millionen Tonnen Lebensmittel werfen die Deutschen jährlich weg. Das sind 570 Kilo pro Sekunde. Ein kleiner Teil davon landet diesen Abend immerhin doch nicht dort, wo er hinkommen sollte: in der Tonne. Stattdessen wird er den Esstisch von Anna schmücken und ihren Kühlschrank füllen. „Dass so viel weggeworfen wird, ist krass“, findet Anna. Ein- bis zweimal die Woche geht sie containern. Obst muss sie daher gar nicht mehr einkaufen. Sie kaufe höchstens noch Nudeln oder Reis.

Rund 65 Prozent der Abfälle sind völlig oder teilweise vermeidbar, informiert die Deutsche Umwelthilfe. Das macht viele nachdenklich. Containern, auch Mülltauchen oder Dumpster Diving genannt, ist längst in der Bevölkerung angelangt: Vor allem junge Menschen greifen immer häufiger in die Tonne. Mehr als 80 Prozent der Deutschen befürworten es laut Statista, dass Lebensmittelretten straffrei wird. So sieht das auch Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne): Strafen fürs Containern findet er absurd.

Nicht mehr so frische Lebensmittel in einer Abflalltonne

Blick in den Eimer: Nicht immer sehen die entsorgten Lebensmittel noch lecker aus.

Den Konflikt für die Bestohlenen hat der Spiegel auf den Punkt gebracht: „Man kann von einem Lebensmittelhändler nicht erwarten, vorn Waren zu verkaufen und hinter dem Haus kostenlos zu verteilen“, äußert sich ein Supermarktbetreiber. Stand jetzt ist es juristisch Diebstahl, wenn Lebensmittel aus der Tonne entwendet werden. Der Müll ist Eigentum des Supermarkts. Containern kann mit einer Geld- oder Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bestraft werden.

Mit der gefüllten Tüte klettert Anna über die Leiter zurück auf die Straße. In dieser Sekunde geht die schwere Tür des Hinterausgangs auf, wo die Tonnen stehen. Hinter einer Hecke versteckt beobachtet Anna eine Person, die etwas in die Tonne wirft. „Das war knapp“, flüstert sie. Im Eiltempo läuft sie zu einem spärlich beleuchteten Platz. Dort kann sie ihre Ausbeute begutachten: acht Avocados, ein Dutzend Orangen und Mandarinen, zig Äpfel, fünf Lauchstangen, sieben Gurken, Paprika, Falafel, Süßigkeiten. Im Laden hätte man dafür sicherlich mehr als 30 Euro bezahlt.

Ertappt worden ist Anna bisher noch nicht. Dennoch geht sie am liebsten alleine los. „Wenn ich erwischt werde, so geht das auf meine eigene Kappe.“ Für sie steht fest: Das war nicht das letzte Mal, dass sie fremde Mülltonnen öffnet. Auch wenn es verboten ist.

Tonnenweise Müll

Zwölf Milionen Tonnen Lebensmittel werden in Deutschland jährlich laut Ernährungsministerium weggeworfen. 52 Prozent davon kommen aus Privathaushalten. Was viele nicht wissen: Das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) ist kein Wegwerfdatum. Es gibt den Zeitpunkt an, bis zu dem ein Lebensmittel unter angemessenen Aufbewahrungsbedingungen seine spezifischen Eigenschaften (Farbe, Geschmack usw.) behält.

In Frankreich sind Supermärkte ab 400 Quadratmetern Größe dazu verpflichtet, aussortierte Nahrungsmittel an Bedürftige weiterzugeben. Die Bundesregierung will Lebensmittelverschwendung bis 2030 halbieren. Sie setzt dabei auf Freiwilligkeit. Die Fraktion Die Linke hat 2019 im Bundestag gefordert, das Entwenden von weggeworfenen Lebensmitteln zu entkriminalisieren: ohne Erfolg.

Fotos: © Helena Müller