Tocotronic im E-Werk: Musikalische Welten 4Event | 29.11.2022 | Pascal Lienhard

Tocotronic im E-Werk Seit 29 Jahren im Business: Tocotronic im E-Werk.

Familien, Studierende, Ü50er, Punks – gemeinsam warten sie im Saal des E-Werks. Einige waren bei der Gründung von Tocotronic noch nicht auf der Welt, andere haben jeder Veröffentlichung entgegengefiebert. So breitgefächert wie die Zuhörerschaft  ist auch die Musik, die das Quartett am Samstag präsentierte.

Das Konzert stand unter keinem guten Stern. Mehrere Male wurde es verlegt, zuletzt war der Support ausgefallen. Doch welche lokale Band würde auf einen Auftritt im Vorprogramm von Tocotronic verzichten? Toco-Bassist Jan Müller kennt als Moderator des Podcasts „Reflektor“ die deutsche Musikszene wie kaum ein zweiter. Vier Tage vor dem Konzert im E-Werk meldete er sich bei der Band Das Blanke Extrem. Ihre beiden Alben hatte die Formation dem Musiker ohnehin schon geschickt. Für das Freiburger Quartett war es ausgemachte Sache: Natürlich sind wird dabei.

Klare politische Aussagen

Mit gesellschaftskritischen Texten zu Themen wie Nationalismus („Das Zeitalter der Fische“) oder Social Media („Filterblasen“) kommt das Quartett beim Toco-Publikum an. Auch musikalisch überzeugen die Breisgauer: In ihrem Post-Punk ist immer wieder Platz für längere Instrumentalparts, bevor es wieder mit voller Wucht nach vorne geht. Die Songs stammen zum größten Teil von der aktuellen Platte „Unheimlich nette Leute“.

Das Blanke Extrem im E-Werk

Spontaner Support: Das Blanke Extrem heizt ein.

„Nie wieder Krieg“ – so heißt das 13. Studio-Album von Tocotronic. Ein schmerzlich aktueller Titel – auch wenn der gleichnamige Song schon 2018 geschrieben wurde und eher von inneren Kämpfen handelt. Dass die Musiker dennoch meinungsstark bleiben, beweisen sie über den Abend mit Stücken wie „Aber hier leben, nein danke“ oder Kritik an Politikern, die sich rhetorisch gegen ukrainische Geflüchtete wenden.

Blues und schrammelige Gitarren

Im E-Werk demonstriert die Gruppe um den gebürtigen Offenburger Dirk von Lowtzow ihre stilistische Bandbreite. Nach vier Songs vom aktuellen Album folgt mit „Digital ist besser“ der Titeltrack vom 1995er-Debüt. War mit „Hoffnung“ gerade noch eine düstere, vom Blues inspirierte Ballade zu hören, knallen jetzt die schrammeligen E-Gitarren, etwa zwei Minuten, dann ist alles gesagt. Da ist auch das Publikum direkt dabei, die jüngeren Besucher·innen eröffnen den Pogo.

Mit Alben wie besagtem „Digital ist besser“ oder „Wir kommen, um uns zu beschweren“ hat die Band – damals noch ohne Gitarrist Rick McPhail – die deutsche Musiklandschaft aufgewirbelt. Quasi über Nacht waren Müller, von Lowtzow und Drummer Arne Zank das Aushängeschild der deutschen Indiemusik – dennoch entfernten sie sich schnell von ihrem Erfolgsrezept. Man mag kaum glauben, dass das ausartende, experimentelle „Eure Liebe tötet mich“ von der gleichen Band stammt wie „Digital ist besser“, zwischen den Nummern liegen musikalische Welten. Der unheilschwangere Text von „Eure Liebe tötet mich“ wird von melancholischen E-Gitarrenklängen flankiert, im E-Werk wird das 8-Minuten-Stück zu einem Highlight.

Und dann dieser Song

Manch einem sind Tocotronic über die Jahre zu prätentiös geworden. Klar, über Texte von Songs wie „Hi Freaks“ oder „Neues vom Trickser“ ließen sich problemlos seitenlange Essays schreiben. Damit ist die Band zum Liebling des Feuilletons geworden. Doch rettet gerade die musikalische und textliche Vielfalt die Band davor, zu sehr in eine Ecke gedrängt zu werden.

Tocotronic im E-Werk

Musiker, Autor und Podcaster: Jan Müller hat spontan eine neue Vorband engagiert.

Natürlich darf ein Song als Rausschmeißer nicht fehlen. Schon während dem Konzert brandet immer wieder der Ruf auf: „Freiburg!“ Das hat nichts mit Lokalpatriotismus zu tun – sondern mit dem Opener des ersten Toco-Albums. Schon als die ersten Fans befürchten, dass die Nummer nicht mehr gespielt wird, kehrt das Quartett noch einmal auf die Bühne zurück. „Ich weiß nicht, wieso ich euch so hasse, Fahrradfahrer dieser Stadt“ – diese Zeile von einem gut gefüllten Saal in der Breisgaumetropole gesungen zu hören, das hat seinen ganz eigenen Charme.

Fotos: © Pascal Lienhard