Entsetzliches Freiburg – Ein Nazienkel und sein Großvater Kultur | 27.04.2020 | Erika Weisser

Autor Leo Per

Neu ist das Buch nicht. Doch es gehört zu jenen Werken, die auch sechs Jahre nach ihrem Erscheinen eine gewinnbringende Entdeckung sind: Per Leos „Flut und Boden“ ist zugleich eine sorgfältig rekonstruierte Familiengeschichte und ein kluger philosophischer Essay über herrschende Machtverhältnisse und deren unterschiedliche Wirkung auf Individuen mit eigentlich gleichen Voraussetzungen.

Ein Teil dieses bemerkenswerten Romans, der 2014 für den Belletristik Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war, handelt in „der entsetzlichen Stadt“ Freiburg. Dieser Handlungsstrang nimmt zwar nur wenig Raum ein, doch er erweist sich für den Autor, sein Schreiben und den Verlauf seines Romans als nachhaltig prägend.

Denn der Ich-Erzähler ist nicht fiktiv, sein Großvater, ein überzeugter und ziemlich hoch angesiedelter SS-Karrierist, so wenig erfunden wie dessen für Naziparolen überhaupt nicht anfälliger Bruder: Per Leo erzählt die Geschichte seiner eigenen, einst sehr wohlhabenden und hoch angesehenen Bremer Fabrikantenfamilie. Nicht chronologisch, sondern in Kapiteln, die bestimmten Ereignissen zugeordnet sind. Und trotz verwandtschaftlicher Zuneigung und emotionaler Verstrickung mit unbestechlicher Klarheit und der wissenschaftlichen Distanz eines Historikers.

Und er lässt keinen Zweifel daran, dass er den Anstoß zu dieser Herangehensweise an komplexe Themen während seines Geschichtsstudiums in Freiburg bekam. Im Wintersemester 1996/97, ein Jahr nachdem er bei der Sichtung des Nachlasses seines Großvaters zu der im Grunde nicht wirklich überraschenden und dennoch niederschmetternden Erkenntnis gekommen war, nahm der „Nazienkel“ an einem Holocaust-Hauptseminar von Ulrich Herbert teil, dem ebenfalls real existierenden und  „damals bedeutendsten Naziforscher der Welt“.

Und plötzlich „hielt dieses Studium das einzige Mal alles, was ich mir davon versprochen hatte“: Herbert, schreibt Leo anerkennend, „reformierte unser kirchentagsmäßiges Bild vom Holocaust, indem er ihn von einer monströsen, aber letztendlich einfachen Tatsache (…), die eine Schlüsselstellung in unserem Gefühlshaushalt eingenommen hatte, zu einem hochkomplexen, nur mit größtem Fleiß und geistiger Anstrengung rekonstruierbaren Prozess machte.“

Das Ergebnis von Per Leos geistiger Anstrengung ist dieses erkenntnisreiche Buch, das sehr viel mehr ist als eine autobiografische Familienchronik. In unorthodoxen analytischen Denkbewegungen macht es Entwicklungsprozesse nachvollziehbar – ohne sie jedoch jemals gutzuheißen.

Buchcover Flut und Boden

Flut und Boden. Roman einer Familie
von Per Leo
Verlag:
Klett Cotta, 2014
350 Seiten,
gebunden
Preis: 21,95 Euro

 

 

 

Foto: © Alexa Geisthoevel