Überlebenskünstler – Fatma Sagir macht Lebenszeichen von „Gastarbeitern“ sichtbar Kultur | 10.04.2020 | Erika Weisser

Friedhof

„Orte, Dinge, Menschen“ heißt das derzeitige Schreibprojekt der Freiburger Autorin Fatma Sagir. Darin geht es um Erinnerung und Vergessen, um den Zusammenhang von mündlichem und schriftlichem Erzählen.Aber auch um den Blick in die Lebenswelten der „Gastarbeiter“, deren Leistung beim Aufbau der Gesellschaft für Sagir zu wenig sichtbar ist. Und die dabei seien, aus der kollektiven Erinnerung ebenso zu verschwinden wie das heute kaum mehr verwendete Wort. Ein Buch ist in Vorbereitung; vorerst sind die sehr poetischen Kurz-prosa-Texte Teil ihrer literarischen Stadtspaziergänge und Lesungen.

Für die promovierte Islamwissenschaftlerin und Kulturanthropologin sind solche literarischen Stadtspaziergänge eine  Variante der mündlichen Erzähltradition, mit der sie aufgewachsen ist: Fatma Sagirs aus Anatolien stammende Familie  lebte  immer mit und in Geschichten. Alte, durch aktuelle Geschehnisse bereicherte Volkslegenden und Märchen, Abenteuergeschichten und Schelmensagen, Familienhistorien und Verwandtschaftsklatsch, Dorfnarrative und Regionalchroniken. Beide Eltern, erinnert sich die 45-Jährige, verfügten über einen schier unerschöpflichen Fundus an Geschichten und gaben sie „sehr gerne und sehr wortgewandt“ an ihre fünf Kinder weiter – nicht nur während der in der Nähe von Hannover verbrachten Kindheit.

Fatma Sagir

Fatma Sagir will mit ihren Texten auf die goßen Leistungsanteile der Migranten am Aufbau und Zusammenhalt der bundesrepublikanischen Gesellschaft aufmerksam machen. Ihre literarischen Stadtspaziergänge führen unter anderem zum Alten Friedhof.

Für die eine oder andere orale Erzählung aus diesem Fundus hat sie erstmals eine schriftliche Form gefunden, etwa bei der Kurzgeschichte „Flüsternd der Wind“. Sie erschien im Sommer 2016 in dem zweisprachigen Magazin „The Freiburg Review“ und wurde von entfernten Verwandten des Vaters überliefert; sie handelt in der Zeit der Armenier-Pogrome in der Türkei und erzählt den Werdegang eines armenischen Kindes, das während der Deportation seiner Eltern von Nachbarn versteckt und vor dem Tod bewahrt wurde und dessen Nachkommen bis heute ein Geschäft für Zuckerwerk führen.

Ein weiterer Text reflektiert Fatma Sagirs eigene Geschichte: Die Entwicklung der ältesten, noch in der Türkei geborenen und verspätet eingeschulten Tochter einer Analphabetin zur eifrigsten und neugierigsten Bücherleserin der ganzen Schule. Und der nicht weit von der Wohnung gelegenen Stadtbücherei. „Es war das schiere Glück, wenn ich ein Buch in die Hand nahm, darin las, den Duft einsog. Unbeschreiblich. Freiheit. Sehnsucht. Abenteuer. Die Aufregung mit nichts vergleichbar.“ Sie habe, schreibt sie – und erinnert sich –, so viel gelesen, dass ihre Eltern ihr es „manchmal sogar verboten“.

Sie thematisiert aber auch – und sehr eindringlich – die jährlichen Reisen in die Türkei, die von oben bis unten mit besten Möbeln  und deutschen Haushaltsgeräten ausgestatteten Häuser, die von Sommer zu Sommer vergeblich auf die endgültige Rückkehr der emigrierten Familien warteten. Sie schreibt in „Kein Ort“ über die letzte Reise ihres Vaters, der nur drei Jahre  nach dem Ende seiner mehr als 40 Jahre währenden Berufstätigkeit in Deutschland starb und in seiner Heimatstadt beigesetzt werden wollte. Und sie setzt sich mit dem Gefühl des doppelten Verlusts auseinander, das sie nach der Rückkehr empfindet:  „Keine Spur von meinem Vater. Als ob er nie da gewesen, hier gewesen wäre, nicht die Mauern der Hochhaussiedlungen der Vorstadt gesetzt hätte. Nie an einer Werkbank gestanden.“

Mit diesen ihre eigenen Erfahrungen spiegelnden Geschichten will Fatma Sagir den „Gastarbeitern“ ein Gesicht verleihen und verhindern, dass deren Einzelschicksale, deren Leben und Lebenszeichen nicht wahrgenommen werden oder mit deren Tod zu verschwinden drohen.

Fotos: © iStock/prill, privat